Sebastian Fitzek: Passagier 23 (2014, 426 Seiten)
Oha. Vor einigen Monaten fand das Erdwesen eine Ausgabe von „Passagier 23“ im Bücherschrank, nahm sie mit, um das so hoch gelobte Buch zu lesen, wenn es gerade passte. Das war die letzten Tage dann der Fall. Ein Bestseller-Autor jagd den nächsten, sozusagen. Doch stellt sich jetzt dem Erdwesen die Frage: Warum um alles in der Welt, gab es um dieses Buch bei seinem Erscheinen so einen Hype?
Rein schreibtechnisch ist es ein gut gemachtes Buch. Alles logisch, alles offenkundig gut recherchiert. Man erfährt tatsächlich alles mögliche über die Gepflogenheiten auf einem Kreuzfahrtschiff. Und der Titel: Auf den Kreuzfahrtschiffen dieser Welt verschwinden durchschnittlich 23 Personen pro Jahr auf Nimmerwiedersehen und dies geschah auch auf der Sultan of the Sea – bis die Passagierin, ein 11 Jahre altes Mädchen namens Anouk dann plötzlich, viele Wochen später, wieder auftaucht. Äh? Passagierin?
Rein von der Geschichte her ist das Buch der absolute Information Overflow. Man fragt sich schon, warum es ausgerechnet „Passagier 23“ heißen muss. Die einzig logische Begründung wird sein: alles andere wäre noch abwegiger. So erzählt Fitzek in dem Buch Geschichtchen um Geschichtchen.
Zum einen haben wir da die Hauptgeschichte. Ein Polizeibeamter verlor seine Frau und seinen Sohn auf einer Kreuzfahrt mit dem Schiff „Sultain of the Sea“ und er möchte aufklären, was passiert ist, denn er glaubt nicht, dass das damalige Ermittlungsergebnis das wiederspiegelt, was tatsächlich passiert ist. Seine Frau hat den gemeinsamen 10 jährigen Sohn im Rahmen eines erweiterten Selbstmords mit in den Tod gerissen, indem sie über Bord gegangen ist.
Dann gibt es da noch die Geschichte um „Passagier 23“, die eigentlich wenigstens „Passagierin 23“ heißen müsste. Denn auch die kleine Anouk geht verloren – zusammen mit ihrer Mutter Naomi, die sogar eine Professorin ist.
Dann hätten wir noch die Geschichte um den Reeder Kalinin. Er ist ein unleidlicher Zeitgenosse und ist in irgendwelche dubiosen Geschäfte verwickelt, bei denen es keinesfalls mit rechten Dingen zugeht. Ist aber egal. So einen Chef muss man als Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes wohl einfach hinnehmen.
Der Kapitän ist mit der Bordärztin liiert. Aber zugleich ist er auch Patenonkel und hat seiner Nichte, die 15 ist, eine Kreuzfahrt spendiert, die sie zusammen mit ihrer Mutter angetreten hat, die das mit der Einladung zumindest glaubt – aber es ist nicht wahr, denn der Kapitän weiss von nichts, freut sich aber über den Besuch. Allerdings ist die Sache ungleich komplizierter. Die Mutter, deren getrennter Mann der beste Kumpel des Kapitäns war, hatte nämlich eine Affaire mit dem Vertrauenslehrer ihrer Tochter und der hatte leider eine Affaire mit der Tochter. Das ganze wird während des Lesens immer makaberer, da die Tochter Suizid begeht – oder doch nicht?
Aber zurück zur Passagierin 23 und zu ihrer Mutter. Naomi wird nämlich in einem unbekannten Teil des Schiffes gefangen gehalten und auf seltsame Art gefoltert. Nur von wem? – Das ganze ist so verworren. Sollten Sie das Buch noch lesen wollen, sie werden beim Lesen meine Darstellung der Dinge ohnehin lange vergessen haben.
So ganz kriegt es das Erdwesen nach über 400 Seiten nicht mehr auf die Reihe, aber der Reeder ist absolut besorgt, als die kleine Anouk wieder auftaucht, denn eine Putzfrau hat sie plötzlich „im Gepäck“ und es stellt sich die Frage, wohin nun mit dem Kind? Der Reeder fürchtet schlimmste finanzielle Einbußen, wenn in New York, welches der nächste Zielhafen des Kreuzfahrtschiffes ist, das Schiff aufs preinlichste untersucht werden wird, weil sich ein 11 jähriges Mädchen so viele wochen unbemerkt verstecken konnte. Zudem wurde das Mädchen augenscheinlich vergewaltigt, ist aufs schlimmste psychisch geschädigt und ist – versteckt vor der Öffentlichkeit – nun in der Obhut der Bordärztin und der Putzfrau, die es gefunden hat.
Aber halt! Da fehlt ja noch ein Strang: Denn wie geschieht es, dass der Polizeibeamte überhaupt wieder an Bord desjenigen Schiffes geht, von dessen Deck seine Frau erst seinen Sohn und dann sich selbst in das kalte Meer stürzte? Da gibt es noch die ältliche Thrillerautorin, die statt eines Pflegeheims eine dauerhafte Unterbringung auf genau diesem Kreuzfahrtschiffes bevorzugt und das Leben an Bord aufs genauste beobachtet. Da ist doch etwas faul! Ganz gewaltig faul! Anregungen für ihre Schriften findet sie hier jedenfalls genug und eine alte Dame, die mal hier und mal dort herumsitzt, fällt niemandem wirklich weiter auf. Sie hat gesehen, dass die kleine Anouk, mit dem Teddy vom Sohn des Kommisars im Arm wieder auftauchte!
Fitzek versucht alsdann das Kunststück, diese ganzen Geschichten zu einer großen zu vereinen. Dass er dabei überhaupt noch den Überblick behält zeugt davon, dass er seine Bücher wirklich in einem Affentempo schreiben muss. Hier haben wir einen Vielschreiber vor uns, niemanden, der lange Zeit damit verschwendet eine im Kopf ausgearbeitete Geschichte sorgsam aufs Papier zu bringen. Und genau so liest es sich dann auch.
Das Erdwesen hat sich selten so erschlagen beim Lesen eines Buches gefühlt. Das soll hier ein Psychothriller sein? Oha. Sorry. Nicht für das Erdwesen. Es ist einfach eine übervolle Geschichte, bei der sehr viele Ideen zusammen kommen, gepaart mit Schreibtalent und plötzlichen irgendwie logischen Einfällen, die allerdings immer wieder so abstrus und spontan auftauchen, dass einem schwindlig wird.
Es ist ein unterhaltsames Buch, aber keinesfalls ein gutes Buch. Spannend? Nunja. Eher ist es anstrengend. Wenn ein Buch wirklich spannend ist, kann das Erdwesen es ohne Probleme komplett in einem Zug durchlesen. Nicht so hier. Nach 40 Seiten spätestens fielen dem Erdwesen erstmal kurz die Augen zu. Besser mal kurz ein Nickerchen einlegen. Dafür ist es dann auch kein Problem beim Lesen nach der Aufwachphase gleich wieder drin zu sein. Es passiert ja ständig was, da ist es jetzt nicht wirklich wichtig, in welcher Reihenfolge es passiert oder wer was macht. An sich sind die Dinge nicht zu kompliziert, nur ihre Quantität treibt einem die Schweißperlen auf die Stirn.
Beim Lesen fällt noch etwas weiteres auf. Das Buch ist für den internationalen Markt geschrieben, oder? Warum sonst nennt man einen Kapitän ausgerechnet Bonnhöfer, die Frauen Elena, Julia, Männer Daniel, Timmy oder Martin. Das sind alles wunderbare Namen, auch in anderen Sprachen. Da findet sich jeder irgendwie zurecht, egal woher er kommt. Wenigstens ist der Russe klar ersichtlich ein Russe, mit dem schönen Namen Kalinin. Eine kleine Reminiszenz an Königsberg. Schön deutsch und auf der anderen Seite doch nicht.
Aber das alles reicht immer noch nicht. Es kommt noch schlimmer! Denn nun werden auch noch die großen Themen in Szene gesetzt. Im Buch soll es eben irgendetwas für jede, also wirklich JEDEN geben.
Naomi wird in ihrem Verlies schrecklich gefoltert, Lisa, das Patenkind des Kapitäns ist eher online zu Hause und trifft sich mit Gleichgesinnten in einem Suizid-Forum. Die 11-jährige Anouk – ihrerseits natürlich hochbegabt! – zeigt schreckliche Folgen von Vergewaltigungen, die Bordärztin kommt durch eine seltsame Krankheit fast ums Leben und der Kommissar, der eigentlich die ganze Zeit nur schlaftrunken durch die Gegend wankt, stolpert von einer Szene zur nächsten. Die Russen (waren das jetzt die Russen?) jagen einen Taschendieb, nachdem dieser mit angesehen hat, wie ein Zimmermädchen von ihnen gefoltert wurde. Dabei kommt aber ein niederländischer Sicherheitsoffizier zu schaden, denn der bekam von seinem Boss – au weia! – einen Revolver, der beim Schießen auf eine Person in die Gegenrichtigung zündet. Das ermöglicht dem Taschendieb, der diesen Schuss auf sich somit überlebt, irgendwie zum Kapitän vorzustoßen und seinerseits diesen zu bedrohen, was verhindert, dass die Mutter von Anouk gerettet werden kann. Noch ist ja nicht bekannt, wer die arme Professorin Naomi gefangen hält!
Der Kommissar behält wieder erwarten tatsächlich den Überblick, auch wenn Anouk zwischenzeitlich verschwindet.
Und da kam das Erdwesen jetzt wirklich ins Grübeln, denn das Mädchen orientiert sich mit Hilfe von UV-Taschenlampen auf den unteren Decks des Schiffes, indem sie entsprechende Hinweisen an den Wänden folgt. Wunderbar Herr Fitzek. Wie lautet Ihr Geocacher-Name? Durch die UV-Zeichen gelangt Anouk dann auch zu ihrer Mutter und – man glaubt es kaum – stürzt diese letzlich im Angesicht der Bordärztin und des Kommissars zu Tode.
Aber halt! Dazwischen spielt sich natürlich noch etwas ab, denn wir erfahren auch die Art und Weise wie Naomi in ihrem Verlies gefoltert wird. Eine, so werden wir später erfahren nicht wirklich transsexuelle Frau (sozusagen auf eigenen Wunsch versehentlich umoperiert, da sie / er selbst durch ihre / seine Mutter vergewaltigt wurde) lässt in das tiefe Verlies mit Hilfe eines Eimers stets ein Notebook herunter. Das Notebook offenbart Fragen, die die Gefangene zu beantworten hat. Bei den Fragen geht es um Verfehlungen der Gefangenen. Antwortet diese nicht „korrekt“, so erfolgt Nahrungsentzug. Es wird ihr kontaminierter Reis angeboten, den die Gefangene schließlich isst, um nicht zu verhungern und somit fast dem Wahnsinn erliegt. Wie gesagt, dass ist alles aber nicht so wirklich von Belang, weil Naomi schließlich durch ihre eigene Tochter im Ozean landet, was weder der Kommissar noch die Bordärztin einschätzen können, denn das Kind wollte doch partout zu seiner Mami?!
Erwähnte ich schon, dass man den erschossenen Sicherheitsoffizier natürlich in einer Art geheimen Kabine entdeckt, in der sich Hinz und Kunz zum Vö…, pardon, trauten Stelldichein trifft, da ja alle in der Regel mit ihrem Partner in Kabinen hocken?
Aber führen wir uns jetzt zuerst noch einmal die absurde Situation der Gefangenen vor Augen: Warum bitte müssen denn simple Texte mit einem Notbook in einer Tragetasche im am Seil hängenden Eimer ausgetauscht werden?! Im Übrigen versucht man auch das geschundene Kind mit IceAge zu beglücken und diverse Apple-Produkte spielen auch noch eine Rolle. Unfassbar!
Das auf diese Art und Weise komplett verwirrte Erdwesen fasst nun noch schnell zusammen wie alles ausgeht. Erstaunlicherweise hat dieses Buch nämlich nicht nur ein Ende, sondern mindestens drei. Und der Clou: dazwischen auch noch eine umfassende Danksagung des Autors an alle, die er kennt. An dieser Stelle der deutliche Hinweis an seine Famlie: Bitte, lasst ihn nicht unbeaufsichtigt im Keller schreiben. Er braucht Euch, er braucht eine gewisse Kontinuität in seinem Leben!
Ende 1: Der Kommissar findet seinen Sohn wieder, nachdem er erfahren hat, dass seine Frau seinen Sohn vergewaltigt hat und sie deshalb im Ozean landete, nicht aber das Kind, welches bei der Bordärztin in der dominikanischen Republik verblieb!
Ende 2: Die Bordärztin, ihres Zeichens Serienkillerin und Komplizin der versehntlich transsexuellen Putzfrau und Freundin des Kapitäns nimmt Rache an dem Vertrauenslehrer, der es mit Tochter und Mutter trieb.
Ende 3: Die ärmliche Reminiszenz an Miss Marple, die Thrillerautorin entdeckt tatsächlich das von ihr vermutete Geheimnis in Beziehung auf die Machenschaften des russischen Reeders an Bord, erkennt dieses aber letztlich nicht.
Was für ein Chaos!
Das einzige, was mir dazu einfällt ist, dass dieses Buch tatsächlich ein Spiegel unserer Zeit ist. Eine Info jagd die nächste. Alles steht irgendwie in Zusammenhang, aber diese Zusammenhänge werden nicht sorgsam aufgebaut, so dass Spannung beim Lesen aufkommen könnte, sondern sie reihen sich in maßloser Weise dicht an dicht immer weiter an einander. Sex sells, Aufregerthemen sell, Gewalt sells und für die Digital-Junkies – auch das sells. War das Erdwesen bei der ersten übertrieben und nicht notwendigen Darstellung von Gewalt noch pikiert, so entsetzt zum Schluss nicht mehr der massive Kindesmisbrauch, der hier (im Rahmen der Gleichberechtigung) durch Frauen begangen wird. Es sind einfach nur Informationen, die irgendwie in die viel zu volle Geschichte eingehen. Ohne Sinn und Verstand.
Sebastian Fitzek kann seinem Marketing danken und einer Leserschaft, die offenkundig nicht mehr in der Lage ist, Anhäufungen von Story-Bröckchen zu erkennen und die stattdesssen glaubt, es mit einem gut gemachten Buch zu tun zu haben, weil sie sich genau in dem Stil, wie er uns jeden Tag in Form von Videoclips, News, Kurznachrichten und Infotainment umgibt, einfach „gut unterhalten“ fühlt. So soll es denn sein.
Es ist schließlich auch hilfreich zu wissen, was man tunlichst nicht aus einem Bücherschrank mit nach Hause nehmen sollte. Fitzek? Kompletter Schwachsinn.