Gaby von Schönthan: Die Löwin von San Marco (1972, 415 Seiten)
Da Venedig eine wirklich phantastische Stadt ist, gelangte auch dieses Buch aus dem Bücherschrank in die Hände des Erdwesens. Ganz ohne Hinweise zur Autorin oder dem Jahr des Erscheinens war es schwer zu sagen, wann dieser historische Roman das Licht der Welt erblickte. In jedem Falle wurde er mit außergewöhnlicher Sorgfalt geschrieben. So dachte sich das Erdwesen, dass die Schriftstellerin für den Roman sehr viele Kleinigkeiten persönlich recherchiert haben musste und das in Zeiten vor „dem Internet“, denn alles in allem sind die heutigen historischen Romane sehr viel oberflächlicher abgefasst. Weil jede Information immer und überall ad hoc verfügbar ist, scheint sich alle Welt auf einen bestimmten Historien-Duktus verständigt zu haben und der besteht aus denjenigen Informationen, die am schnellsten im Internet auffindbar sind und fußen so gut wie nie auf einer echten tiefgreifenden Recherche aus eigenem Blickwinkel.
Auch die Wortwahl dieses Buches ist bei Weitem sorgfältiger als in modernen Büchern. Immer wieder gibt es Sätze, die für sich genommen grandios sind. Wer gibt sich beim Schreiben heute noch so viel Mühe? Kann doch jeder Satz jederzeit revidiert und in eine andere Abfolge der Gesamterzählung gebracht werden. Wer weiß, vielleicht sind all dies Gründe dafür, dass dieses Buch sich so wunderbar liest. Ganz anders als die Bücher des Computerzeitalters. Es ist mit Muße und mit sehr viel Überblick geschrieben, so dass es möglich wird, komplexeste Lebenssituationen und deren Auswirkung in einen einzigem Satz zusammenzufassen. Bei vielen Autoren aus dem Jetzt führt dies zu ausschweifenden Begründungen für das Tun und Handeln ihrer erdachten Protagonisten, nur weil sie die Kunst des abschließenden Formulierens einfach nicht beherrschen oder nicht gründlich genug nachdenken. Hier heißt es an entsprechender Stelle schlicht:
„Sein medizinischer Erfolg hatte so zu seiner seelischen Niederlage beigetragen, daß er seine Fähigkeiten verfluchte.“ – Damit ist alles gesagt.
Die Szenerie ist das Venedig nach dem Jahr 1715. Aber auch hier gibt sich das Buch eher zeitlos. Die historischen Ereignisse jedoch, in die die unglückliche Liebesgeschichte eingebettet ist, können eindeutig recherchiert und zeitlich zugeordnet werden. Gracia de Riva, eine Tochter aus gutem, aber durch Spielsucht verarmtem Hause ist als Mündel ohne Mitgift im Kloster gelandet. Eine halsbrecherische Flucht mislingt. Ihr potentieller Liebhaber und vormaliger Lehrer und Arzt muss gar die alleinige Flucht aus Venedig ergreifen. Nach der folgenden Ermordung ihres Vaters untersteht Garcia der Obhut ihres Bruders, der offiziell seine Hände in Unschuld wäscht.
Doch dann wird es Karneval in Venedig und alle guten Sitten sind für die Karnevalssaison ausgesetzt, so dass Garcia eine Möglichkeit findet, dem Kloster zu entkommen, indem sie die Äbtissin mit dem ihr (eigentlich) zustehenden Erbe gefügig zu machen versteht. Und dann beginnt die geneigte Leserin die hohe Gesellschaft in Venedig und dem Paris der damaligen Zeit genauer kennen zu lernen. Frankreich steht unter dem Regenten von Orleans, der Orgien feiern lässt, sich selbst aber keiner eigenen Manneskraft mehr rühmen kann und das Gold zu Gunsten von Papiergeld als Zahlungsmittel abgeschafft hat – außer für sich selbst versteht sich.
Mittlerweile ist Garcia mit einem französischen, sehr viel älteren Adeligen verheiratet, der sie jedoch kurz nach dem Karneval durch einen Stellvertreter (!) hat heiraten lassen, denn er kann den Orgien des Regenten ohnehin nichts abgewinnen, weil dabei jeder seine Ehefrau den anwesenden Reichen und Schönen zur freien Verfügung stellen muss. Zur gleichen Zeit versucht der Regent seine Manneskraft wieder zu erlangen und gerät natürlich an Garcias ehemaligen Lehrer und Arzt, der schon die Mutter des Regenten kurieren konnte und so durch die dafür erhaltenen Aktien auf ihm unerklärliche Weise ein Vermögen macht, welches er so schnell wie möglich wieder in Gold eintauscht, da ihm die Sache in keine Weise geheuer ist.
Gleichzeitig nutzt Garcia alle sich ihr bietenden Freiheiten und sucht den Kontakt zum Botschafter von Venedig in Paris, der ein entfernter Cousin ist. Sie leiht ihm ihren eher bescheidenen Erbteil, um diesen binnen kürzester Zeit in ein Vermögen an Aktien zu wandeln, um es dann widerum in Form von Waren in Richtung Venedig in Goldukaten bei der Bank von Rialto anzulegen. Garcia vertraut ihm nicht nur blind, sondern als ihr angetrauter ältlicher französischer Gatte plötzlich über Nacht stirbt, kehrt sie zurück nach Venedig und heiratet ihren entfernten Cousin und Ex-Botschafter, was sie zur höchst angesehenen Frau in Venedig macht, da ihr neuer Ehemann den Dogen vertritt. Dies tut sie alles im sicheren Bewußtsein, dass sie ihren ehemaligen Lehrer und Arzt natürlich niemals wiedersehen wird, und als geborene „Riva“ ist sie sich diese glänzende Karriere auch einfach schuldig. Von wegen Kloster!
Es wäre kein Liebesroman, wenn justamente nicht wieder die Zeit des Karnevals anbräche und sie erfährt, dass ihr Schwarm ebenfalls in Paris weilte als sie erfolgreich mit dem Regenten tendelte, er dann aber nach London entkam, um sich dort mit weiteren medizinischen Studien zu befassen und seine verbotenerweise erstandenen Golddukaten zu retten.
Was soll das Erdwesens sagen? – Doch dann kam alles ganz anders!? Also ganz anders!! – Die mild dahin plätschernde bis spannende Geschichte nimmt ein jähes Ende. Mehr wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten.
Ein lesenswertes Buch, gespickt mit „pikanten Details“ der Moralauffassung der damaligen Zeit und da verwundert es dann auch in keiner Weise, dass das Erscheinungsjahr mit 1972 angegeben ist. Da verstanden es Frauen noch „me too“ erfolgreich für sich zu nutzen ohne permanent herumzujammern.