Kammerer, Iris: Varus (2008, 451 Seiten)
Hier kennt sich jemand richtig gut aus mit den alten Römern und Germanen. Obwohl das Buch den großen Titel „Varus“ trägt, könnte es genauso gut einen konkreteren Titel tragen, aber nichts macht so schnell deutlich, in welcher Zeit der historische Roman angesiedelt ist. Iris Kammerer berichtet von der Schlacht im Teutoburger Wald als wäre sie selbst dabei gewesen. Der Aufbau und die Taktiken des römischen Heeres gehen ihr ebenso leicht von der Zunge wie eine vortreffliche Beschreibung der römischen Gesellschaft in Germanien. Das Buch wird durch ein umfangreiches Nachwort abgerundert, welches noch einmal belegt, wie vertraut die Autorin mit den aktuelen Forschungsergebnissen zur Vausschlacht ist. Ebenso gibt es einen historischen Ablauf, ein Personenregister und Glossar.
Das Erdwesen hat schon eine ganze Reihe von Varus-Schlachten-Büchern, die im Zuge der Entdeckung des Schlachtfeldes bei Kalkriese einhergingen, gelesen. Doch mit diesem Buch haben wir ein ganz besonderes Buch vor uns, denn es geht hier gerade nicht um die hohen Feldherren, sondern geschildert wird die Schlacht aus den Augen des verwundeten Leginärs Annius, der seine letzten Dienstjahre aufgrund einer schweren Beinverletzung als Schreiber tätig ist. Karriere gemacht hat er nicht, jedoch seinen Dienst stets mit Zuversicht und Überzeugung verrichtet ohne dabei seine eigenen Ansichten aus den Augen zu verlieren. Er dient im römischen Heer und damit der richtigen Sache, aber er fragt sich auch, ob die Sache gelegentlich noch richtig ist und wie sein Leben aussehen soll, wenn er in wenigen Jahren aus dem Heeresdienst ausscheidet und er zurückkehrt in den warmen Süden, in das Land seiner Eltern.
Iris Kammerer beschreibt das Leben im Lager eindrucksvoll und flicht dabei so viele erforschte Details ein, dass einem aufgrund ihres großen Wissenschatzes beinahe Angst und Bange werden kann. Sie schreibt flüssig und ist schnell zu lesen. Es gibt keine auffälligen Dopplungen von Informationen und so ist man als Leserin in kürzester Zeit eingebunden in das römische Lagerleben und dem dort vorherrschenden Zeitvertreib, dem Würfelspiel. Bei genau so einem Würfelspiel gewinnt Annius eine junge Germanin, die er fortan Rufilla nennt, da er ihren germanischen Namen einfach nicht aussprechen kann.
Annius ist nicht der Mann, der sich per se dem Würfelspiel oder dem Weingenuss hingibt. Er ist ein überlegter Zeitgenosse und hat vor allem durch seine Verwundung ein gänzlich eigenständiges Bild vom Grauen des Krieges, von den Schlachten und auch von den Plünderungen. Er macht seinen Job, aber er reflektiert. So erscheint es ihm Unrecht, dass die junge Germanin ihrem Stamm geraubt wurde und nun, da sie jung und gutaussehend ist, ihre Dienste für lüsterne Männer des Heeres bereitstellen soll. So setzt er im Würfeldspiel mehr ein als er sich eigentlich leisten kann, aber weit weniger als tatsächlich ein solch vortrefflich unverbrauchtes Weib kostete und hat pures Glück. Er gewinnt das Spiel und der berüchtigtes Sklavenhändler, den darauf Hohn und Spott treffen, muss ihm die junge Germanin überlassen.
So findet sich Annius von jetzt auf gleich in einer Lage wieder, in der er besser nie gekommen wäre. Was soll er nun mit einem erreteten Mädchen, welches pure Angst vor ihm hat? Hat er doch kaum die Möglichkeit, sie als Sklavin so respektvoll zu behandeln, wie er es von seinen Eltern gelernt hat. Nachdem er eine Notunterkunft für das verschreckte Mädchen gefunden hat, schweigt er fortan gegenüber allen Kollegen zu seinem Würfelgewinn. Die ziehen ihn gehörig auf, nur sein Zimmergenosse hält sich etwas zurück, bleibt aber langfristig „dran“. Doch dann gibt es den Marschbefehl und die Probleme fangen erst so richtig an, ist er doch Fusssoldat, der in seiner Einheit marschiert und über keinerlei Vergünstigungen verfügt, abgesehen davon, dass er als kampfunfähig gilt, sich nur noch mit einem Kollegen ein Zelt teilen muss und oft als Schreiber von Offizieren geordert wird, was ihm einen gewissen Überblick verschafft, über den er freilich Stillschweigen zu bewahren hat.
Annius schafft es, seine Sklavin bei der Frau eines Kollegen und deren Tochter unterzubringen, damit sie im riesigen Tross, der das Heer begleitet, nicht verloren geht und so zumindest die Nacht über bei dem Sauwetter in einem Wagen verbringen kann. Aber so einfach ist das natürlich alles nicht, denn auch die junge Germanin erkennt, dass sie hier wohl einen etwas sonderbaren Herren erwischt hat, der sie zwar als Sklavin adressiert, sie jedoch gewähren lässt und sie gut versorgt. Sie fasst vertrauen und berichtet ihm trotz allem von einem Mord, der am Ufer eines Flusses passiert ist und der – so erfasst Annius aufgrund der protokollierten Sitzungen – sehr wohl mit einer germanischen Revolte aus dem römischen Heer selbst heraus einhergehen kann.
Rund um Annius spitzt sich die Lage zu. Der Verrat des Arminius tritt für ihn immer deutlicher zu Tage, aber Annius hat keine Möglichkeit das Wissen hierüber bei den Offizieren zu platzieren. Der Offizier, der ihm Glauben schenkt, hat selbst eine schwierige Stellung im Heer, da er aus gutem Hause kommt, aber selbst keine Erfahrung im Kampf hat. Wir dürfen uns also getrost einen Sommer vorstellen wie im Jahre 2021, wo das Wasser vom Himmel fällt und es schon gegen Mittag so grau ist, als ginge die Sonne unter.
Das Heer und der Tross winden sich durch den Morast und an einer besonders schmalen Stelle beginnen die unerbittlichen und grausamen Angriffe. Annius gerät durch seine Arbeit als Legionär, Schreiber und „guter Bekannter“ des Offiziers – eine aus seiner Sicht eher zweifelhaften Vorteil, denn es gilt Hierarchien zu beachten – mitten ins Angriffsgetümmel, wo er auch noch dafür sorgen muss, dass der kampfunerfahrende Offizier nicht untergeht. Der seinerseits erkennt Annius nicht wieder und sieht gleichzeitig ein, dass er keine Ahnung vom tatsächlichen Überleben hat. Die Nachrichtenübermittlung unter den drei Legionen wird immer schwieriger. Der ganze Zug ist so unglaublich in die Länge gezogen, dass man das übliche Voranschreiten mit dem Bau von temporären Lagern kaum noch aufrecht erhalten kann, weil dafür an bestimmten Stellen aufgrund der Sümpfe und Wälder schlicht kein Platz ist.
So zerreibt sich Annius also zwischen Pflichterfüllung, Hilfesbereitschaft und innerer Entschlossenheit, den Germanen die Stirn zu bieten. Annius schafft es, den Kontakt zum Tross, in dem sich seine germanische Sklavin befindet, für lange Zeit aufrecht zu erhalten, muss dann aber miterleben, wie die römischen Legionen regelrecht niedergemetzelt werden. Auch kann keine Rücksicht mehr auf seine Behinderung genommen werden und er wird auf seinen Wunsch hin wieder in die kämpfende Truppe eingegliedert. Da er aber weiterhin auch als Schreiber angefordert wird, landet er irgendwann direkt im obersten Heerlager im Zelt von Statthalter Varus. Dieser entscheidet sich für den Selbstmord, den Annius nicht so recht billigen kann, denn Varus hat sich mit Annius Unterstützung (nur für den Fall, dass der Tod wider Erwarten nicht schnell genug einträte) mit dem von Arminus geschenkten Dolch entlaibt. So tauscht Annius Dolch gegen Schwert und begibt sich, wie von Varus vor seinem Selbstmord beauftragt, mit den Nachlass-Papieren des Varus zurück in Richtung Rhein, gleichwohl wissend, dass nicht nur das komplette Heer, sondern auch der gesamte Tross so gut wie vollständig zerrieben wurde.
Jedoch gibt es sehr wohl Überlebende des Tross, denn die zurückhaltende Frau des Kollegen, bei der er Rufilla untergebracht hatte, ist bei vielen Zivilisten als Vorbild anerkannt. Es gelingt ihr, ihre Tochter und die Germanin aus dem schlimmsten Gemetzel heraus zu lösen und Abstand von der Schlacht zu gewinnen. Die Germanin, eine Brukterin, ist nicht mehr weit entfernt von ihrem Zuhause und so gelingt es dem kleinen Häuflein Menschen, unter ihnen vor allem Prostituierte und Freigelassene, unter ihrer Führung tatsächlich ein befestigtes Lager der Römer an der Lippe zu erreichen. Die Germanin wartet dort auf Annius, denn dieser hatte ihr nicht nur versprochen, sie wieder bei ihrer Familie abzuliefern, sondern ihr auch einige Wachstafeln überreicht, die ihr gestatten – sollte ihre Familie nicht mehr leben – zu seinen Eltern nach Italien zu reisen und dort wie ein Kind des Hauses aufgenommen zu werden. Was aber soll sie in in einem fernen Land mit ihren geringen Sprachkenntnissen ohne Annius?
Zum Glück endet in diesem Buch trotz der Schlacht und der vielen Toten, alles gut für die beiden und eine lange Zeit später treffen sich in glücklicher Fügung die junge Germanin Thiudgif und der römische Legninär Annius tatsächlich in einem der befestigten römischen Lager, wo Annius endlich Kunde bringen kann, von dem ehrenvollen Selbstmord des Varus durch sein eigenes Schwert und dem gnadenlosen Untergang der drei Legionen bei der Schlacht am Teutoburger Wald.