Meister, Derek: Rungholts Ehre (2006, 544 Seiten)
Als das Erdwesen wieder auf der Suche nach einem lesenswerten Buch war, fand sie „Rungholts Ehre“ in einem ihrer vollen Bücherregale. Nach den zwei letzte Machwerken, war jetzt die Reihe erfreulicherweise wieder an einem deutschsprachigen Autor, der 1973 in Hannover geboren wurde. Wer hätte je angenommen, dass es einem Hannöverschen gelingt, ein solch prächtiger Autor zu sein!
Der historische Kriminalroman erscheint brilliant recherchiert, um die Zeit um 1390 in Lübeck pefekt in Szene zu setzen. Eigentlich hatte das Erdwesen mit einer Geschichte aus dem untergegangenen Rungholt gerechnet, aber die Annahme war irrig. Lediglich die imposante Hauptfigur Rungholt stammt als damals 13 Jahre alter Überlebender aus dem untergegangenen Ort Rungholt, welches auch der Grund für seinen Namen ist und einige kauzige Angewohnheiten, die ihm während seiner „Ermittlungen“ oft genug in Bedrängnis geraten lassen. Rungholt selbst freilich versteht sich in erster Linie als ehrbarer Lübecker Kaufmann und angesehener Ratsherr, der in zweiter Ehe mit Adelheyd verheiratet ist und versucht auch seine dritte Tochter, den wahrlichen Nesthaken Mirke mit ihren 13 Jahren endlich unter die Haube zu bringen, um zugleich seinen eigenen Reichtum ein gutes Stück zu mehren. So ist dies denn auch die Art und Weise, in der er die Welt wahrnimmt. Hat jemand eine gewaltigere Diele als er? Ist ein Giebel womöglich prächtiger gestaltet? Aber Rungholt hat durchaus auch ganz eigene Ansichten. So erscheint es ihm nicht von Vorteil am besten Platz der Stadt zu siedeln, während vor allem ein gutes Essen und noch besserer Wein oder zu Not Wacholderschnaps und Bier seine Zustimmung finden.
Mirke gerät ganz nach ihrem Vater und sieht ebenfalls die Welt auf ihre Weise. Aus ihrer Sicht war es besser, als sie mit ihrem Vater allein war und er noch nicht mit Adelheyd verheiratet war, aber das Leben spielt eben wie es spielt. Auch das Temperament ihres Vaters hat sie geerbt, was Adelheyd, ihre treu sorgende Stiefmutter und Hilde die Magd schon gelegentlich an ihre Grenzen bringt und die baldige Verlobung (Toslach) um so dringlicher erscheinen lassen. Mirke hat ein Auge auf Daniel, den Kaufmannslehrling ihres Vaters geworfen, der ebenfalls durch seine Aufmüpfigkeit gegenüber dem alten Kaufmann zu bestehen weiss. Jedoch ist ein Lehrling natürlich keine gute Partie wie es der ehemalige Bürgermeister Lübecks Attendorn ist, der fett im Tuchgeschäft mit Brügge befasst ist und zudem ein ausgesprochener Kavalier mit ansehnlichem Äußeren und sehr guten Manieren, was auch Mirke durchaus zu schätzen weiss. Schließlich weiss sie sehr wohl, welche Aufgabe ihr als Kaufmannstochter ohne wenn und aber zukommt. Und ihr Vater hat es immerhin auch geschafft, ihre beiden älteren Schwestern glücklich und in sehr gute Verhältnisse zu verheiraten.
So beginnt denn eine harmlose Geschichte, in der sich zwei Teenager verbotener Weise an einer alten Mühle außerhalb der Stadtmauern treffen. Doch es kommt wie es kommen muss: Ein Toter taucht plötzlich aus dem Wasser auf und Daniel erkennt ihn sofort. Was also tun?
Derek Meister vesteht es perfekt, die städtischen Strukturen im Zeitalter der aufstrebenden Hanse mit Ständehäusern und einflussreichen Herren wie Fiskal, Ratsherren und Helfern wie den Bütteln (eine Art Polizei) zum Leben zu erwecken. Auch Bettler und das arme Volk werden eindrucksvoll präsentiert. Dabei glänzt Derek Meister mit einer perfekt angepassten Ausdrucksweise und einem großen Fachvolkabular, welche einen bis zum Ende des Buches immer mehr gefangen nehmen. Eindrucksvoll werden wir mit der Zeremonie der Heirat bekannt gemacht, während am anderen Ende der Welt ein zweites Drama seinen Lauf nimmt und ein Vater, ebenfalls Lübecker Kaufmann, verzweifelt versucht, seinem jüngsten Sohn das Leben zu retten, indem er auch die letzten seiner Waren den Räubern überlässt, nachdem bereits sein ältester Sohn auf hoher See von Ostseepiraten (Vitalienbrüdern) nicht nur ausgeraubt, sondern auch getötet wurde. Doch wie stehen der Tote in Lübeck und dieser Kaufmann miteinander in Verbindung?
Im Laufe der Suche nach dem tatsächlichen Mörder der Lübecker Wasserleiche, der durch den Rat nur allzu schnell als Daniel bestimmt wird, erlebt Rungholt allerhand und wird auch zu einer kritsichen Selbstschau gezwungen. Das erstaunliche dabei ist, dass das Buch erst auf dem letzten Drittel tatsächlich zu einem erkennbaren Kriminalroman wird. Das Buch ist Roman, Gesellschaftsanalyse, Zeitzeugenbericht, historische Darstellung Lübecks. Das alles für sich genommen macht das Buch schon sehr gut und lesenswert. Dass im Hintergrund auch noch eine fesselnde Kriminalgeschichte entsteht (und perfekt gelöst wird), erscheint da fast schon als belanglose Dreingabe, zumal es im Laufe des Lesens immer mehr über den Kaufmann Rungholt zu erfahren gibt, der in einigen Dingen zwar unkonventionell sein mag, jedoch in erster Linie das ist, was er ist: Kaufmann und Ratsherr, der volles Vertrauen hat in seine Zeit und in seine Gesellschaft.