Püschel, Walter: Crazy Horse (1982, 187 Seiten)
Im Bücherschrank fand das Erdwesen ein Buch „Abenteuer rund um die Welt“, welches auf ihr Interesse stieß, da sie in ihrem Leben noch kein einziges fesselndes Wildwestbuch aus dem Westen gelesen hat. Es handelt sich dabei um ein Kinderbuch aus dem Lande Karl Mays, also der DDR. Da aber laut Cover besonderen Wert auf die historischen Fakten bei der Ausarbeitung gelegt wurde, beschloss das Erdwesen das Schicksal des Oglallas Tashunka Witko (Crazy Horse) zu ergründen.
Das Buch beginnt ein wenig langatmig und schnell musste das Erdwesen erkennen, dass gar nicht der historische Indianer sondern viel mehr ein „Heimstätter“ Tom Averill den Hauptdarsteller gab. Dennoch traten einige interessante Fakten (?) zu Tage. So war laut Darstellung Crazy Horse mit blonden Haaren und heller Haut eher ein Nachfahre der Wickinger, denn der üblichen Indianer. Äußerst ungewöhnlich mutete beim Lesen dann auch an, dass für die Bezeichnung der Indianer ständig zwischen Deutsch und Englisch hin und hergesprungen wird. Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass DDR-Kinder eher Russisch als Englisch lernten? Jedenfalls dauerte es eine Zeit, bis das Erdwesen kapierte, dass mit Red Cloud und Rote Wolke wirklich die gleiche Person bezeichnet wurde. Entweder diese Besonderheit nimmt zum Schluss des Buches hin ab oder aber die geneigte Leserin hat sich schlicht daran gewöhnt.
Die schleppende Einleitung überflog das Erdwesen dann auch dementsprechend schnell. Nichts von Interesse schien ihr zu passieren und so ist es auch nicht möglich, beim Lesen wirklich etwas zu verpassen. Das Buch bedient Klischee um Klischee oder aber vielleicht sind es auch ausgewählte Fakten, wer weiß. Rancher und stacheldrahtbewehrte Farmer stehen sich unversöhnlich gegenüber, ein fahrender Zirkus ist die Attraktion der ganzen Gegend und bringt Weiße und Indianer bei einem inszenierten Postkutschenüberfall zusammen. Farmer Tom Averill verliebt sich auch sofort in die scharf schießende Tochter des Zirkusdirektors, während der böse Rancher seine Frau beiseite schiebt und trotz seines fortgeschrittenen Alters ebenfalls ein Auge auf die junge Dame geworfen hat. Nebenher wird – ganz Amerika wie wir es auch heute noch kennen – locker sitzende Pistolen und Flinten (eine Winchester darf natürlich nicht fehlen!) ein rechtes Gemetzel entfacht, der auch dem dem Vater von Tom, Rechtsanwalt Averill das Leben kostet und letzten Endes einen „Indianerkrieg“ heraufbeschwört, der de facto jedoch eher auf Seiten der Weißen als solcher bewertet wird.
Die Geschichte liest sich gut und bietet zugleich Einblicke in das Leben von freien Indianern und jenen in einer Reservation. Die sprachliche Gestaltung ist es etwas ungewöhnlich, was eventuell dem Vermeiden im Westen gebräuchlicher Anglizismen geschuldet ist. Die Geschichte schreitet unerbittlich voran und so hat das Erdwesen nun, nach ein paar Tagen tatsächlich Mühe zu entscheiden, was sie tatsächlich gelesen hat und was davon sie aus dem ein oder anderen Western kennt. Schließlich hat vermutlich kein Kind der Welt je so viele Western geschaut wie das Erdwesen in ihrer frühesten Jugend. Zurück bleiben daher viele lebendige, bunte Bilder, nicht aber Zeilen um Zeilen von Text.
Gut Dargestellt wird die Vielfalt der Nationaläten der Siedler und gut dargestellt wird auch, dass es überall Menschen gibt, die positiv kooperieren oder die einfach nur zu ihrem eigenen Vorteil handeln und damit viel Böses anrichten. So plätschert die Geschichte kurzweilig bis spannend dahin, bis sie abrupt endet. Und das war für das Erdwesen tatsächlich ein Schock!
Bäng!
Und dann sind einfach alle tot. Nichts wird mehr erklärt, nichts wird mehr fortgeführt. Die sprachliche Gestaltung des Todes ist genau so, wie man sie von einem guten Western erwartet. Fast könnte man meinen, man habe die Stelle überlesen. Aber nein, auch bei einem zweiten und dritten Lesen, bleibt es wie es ist: Einfach tot und die Geschichte in der Geschichte ist aus. Kein Mensch weiß, wie die gute Annie den Tod ihres Mannes aufnahm. Und so wird auch das Herz von Tashunka Witko nur kurze Zeit später in einer Biegung des Flusses Wounded Knee begraben, nicht aktiv, aber immerhin erfahren wir davon. Das Ende der letzten freien Indianer.
Mit diesem absolut herzlosen Schluss ist das Buch tatsächlich ein außergewöhnliches Buch. Der Kreis schließt sich, ist einfach zu Ende und geht doch – anders – weiter. Die geneigte Leserin bleibt geschockt zurück.
Für Kinder ab 10 Jahren?!
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Ich habe mich dann gefragt, was es damit auf sich hatte, was wir im Westen in der Schule gelernt haben: Die DDR ist böse. Dort wird alles manipuliert. Wer nicht die Meinung der Regierung hat, ist dort nicht erwünscht. Wir sind die einzig Guten! – Uns hat man ein sehr einseitiges Bild präsentiert. Kein DDR-Buch ohne Manipulation! Seid vorsichtig, was ihr von dort lest!
Ich frage mich ernsthaft, was an diesem Buch nun Manipulation ist? Versetzen wir uns einfach in das Jahr 1982 West und früher und heute:
- Auch gleiche Menschen sind durchaus verschieden
- Frauen sind gleichberechtigt
- Diverse Menschen sehen das anders
- Es gibt böse und gute Menschen gleicher Nationalität
- Gemeinsam lassen sich komplexe Dinge leichter erreichen
- Es bedarf viel Überzeugungsarbeit, bis man Menschen trifft, die einen unterstützen
- Interessen können überall aufeinanderprallen
- Gemeinsame Interessen können ebenfalls überall zeitgleich auftauchen
- Es sterben sowohl gute als auch böse Menschen
- Durch den Tod, egal von wem, werden Fakten geschaffen
- Übernehmt Verantwortung!
Gefährlicher Osten, jedenfalls für den Westen um 1982. Aber ein absolut gut gemachtes Buch.