Veronique Poulain: Worte, die man mir nicht sagt – Mein Leben mit gehörlosen Eltern (2014, 151 Seiten)
Dieses zwar nicht hochgradig ausformulierte aber dafür inhaltlich um so interessantere Buch wurde von einer Französin (geb. 1965 in Paris) geschrieben, die darin in einer Art Stichpunkt-Kapiteln das Aufwachsen mit ihren tauben Eltern beschreibt. Auch ihre Cousine und ihr Cousin wachsen mit tauben Eltern auf. Ohne übertriebene Rücksicht beschreibt sie Ihre Erfahrungen und wie sie als Kinder die taube Verwandtschafts austricksten, um sich den ein oder anderen Spaß zu gönnen oder entsprechendes „temporäres Leid“ zu ertragen.
In unserer derzeitigen offiziellen deutschen Wohlfühl- und Non-Diskriminierungs-Gesellschaft mutet das Buch ob der Offenheit schon fast an wie eine Mini-Revolution. Kein Wunder, dass es im ullstein-Verlag erschienen ist. Wo hätten derlei „diskriminierende“ Äußerungen sonst aktuell veröffentlicht werden können? Dass eine Deutsche ein solches Buch verfasst? Für das tatsächlich momentan undenkbar. So etwas täten nur Leute, die die AfD wählen, aber doch bitteschön nicht hörende Kinder von tauben Eltern?!
So testen die Kinder eines Tages, ob denn die Tante auch ganz sicher nichts hören kann. Während die Tante vor sich hin schnarcht, werden ihr ganz sanft Kopfhörer aufgesetzt und dann setzt die Beschallung mit Heavy Metal ein. Sie regt sich nicht, sondern schnarcht tatsächlich weiter! Um das Experiment zu vervollständigen wird dann auch noch die Brille der Tante – diese trägt sich auch im Schlaf auf der Nase – mit Rasierschaum besprüht. Was für ein Schock für die Tante beim Aufwachen?! Während des Schlafens erblindet?!?
Ein anderes Mal wird die pubertierende Tochter vom Vater versehentlich auf dem Balkon ausgeschlossen, da dieser nur noch Augen für einen offenbar offenherzigeren Film hat, den die Tochter so nun rauchender Weise gleich vom Balkon aus mitverfolgen kann. Als der Vater den Fernseher nach 1,5 h wieder ausschaltet, bemerkt er dann doch noch seine Tochter gestikutlierend auf dem Balkon – und sieht auch die ganzen unerlaubten Zigarettenkippen. So entsteht unversehens eine Pattsituation, denn die Mutter wäre mit dem Schauen dieses Films eben auch nicht einverstanden gewesen…
Dem Erdwesen war es nicht bewusst, dass die Gebärdensprache lange Zeit sogar verboten war. Man stelle sich vor: nicht hörende Menschen sollen sich mit einer lautbasierten Sprache verständigen! – Was für ein Unsinn. – Dies findet man aber nicht heraus, wenn man das Buch liest, sondern das Buch ist eher eine Art Sprungbrett in die Welt der gehörlosen Menschen und ihre Art, die Welt zu sehen und so kann die geneigte Leserin beginnen, einige Fakten zu recherchieren. Am Entdeckertag konnte man das „Taubblindenzentrum“ in Hannover auch entdecken. Letzten Endes hatte das Erdwesen sich jedoch für die Wellenforschung entschieden.
Dadurch, dass gehörlose Menschen sich quasi von Natur aus mit einer recht einheitlichen Gerbärdensprache als Muttersprache zu verständigen lernen, können sie sich über alle Sprachbarrieren hinweg verständigen. Da die gehörlosen Menschen jedoch wegen ihrem „Defizit“ (oder eben ihrer „mangelnden Anpassung“) eine quasi-gemeinsame Kultur erleben, bilden Sie innerhalb der Gesellschaft, in der sie anzutreffen sind, eine Art eigener Kultur, die für sich genommen jedoch einheitlich ist. Eine Gesellschaft in den Gesellschaften sozusagen. Das ist eine ziemlich krasse Erkenntnis, zu der das Erdwesen ohne dieses Buch niemals gekommen wäre, weil es sich schlicht mit dem Thema noch niemals beschäftigt hat. Blinde fallen noch einigermaßen auf, aber jemandem, der nicht hört, dem sieht man das nicht an, was dazu führt, dass sie quasi „nicht vorhanden“ sind.
Auch die Details, die man zur Gebärdensprache erfährt, sind sehr interessant. Übermittelt werden Information mit dem Einsatz des gesamten Körpers. Dabei sind sämtliche Wörter gleichrangig wichtig. Metaphern oder irgendwelche klugen Sinnsprüche gibt es nicht. Vergangenes wird erzählt, wenn der Gebärdende sich leicht zurücklehnt. Bei zukünftigen Dingen lehnt sich hingegen der Gebärdende leicht nach vorne. Auch werden Dinge sehr oft gestenreich umschrieben, wenn es noch keine allgemeinverständliche Geste dafür gibt und alles in allem führt das Gebärden zu einer sehr abgehakten Form der Schriftsprache. Dazu muss man allerdings sagen, dass die hier beschriebenen Eltern in einer Zeit aufwuschsen als es noch nicht üblich war, nicht hörende Menschen tatsächlich im Hinblick auf Schriftsprache zu fördern. Wenn man jedoch die entsprechenden Seiten im Internet aufsucht, findet man genau diese Art von mangelnder Grammatik bei den Schreibenden. Das Erdwesen hatte nämlich interessiert, ob die Verstümmelung der Sprache der Hörenden eher auf die Übersetzung von Französisch nach Deutsch zurückzuführen war oder tatsächlich auf das Problem mit einer Grammatik, die in der Muttersprache der Gehörlosen so schlicht nicht vorkommt, sondern erst erlernt werden muss.
Das Ganze verwundert mich ohnehin. Wenn ich nichts höre, habe ich auch keine Vorstellung von Lauten. Wie ist es dann möglich, sich Zeichenfolgen zu merken, die etwas sinnvolles aussagen?! – Das allein ist ja schon eine beachtliche Leistung, die für das Erdwesen jedenfalls kaum nachzuvollziehen ist.
Ein gutes Buch. Auf seine ganz spezielle Art, denn wo erlebt man es schon, dass eine Autorin auch tatsächlich etwas zu sagen hat. Die kleine „Schusseline“*.