Zum Glück nur fast überfahren

Das Erdwesen wird das Gefühl nicht los, immer mal wieder im falschen Film zu sein. Die Gesellschaft driftet so langsam vollständig auseinander und die einzelnen Gruppen haben kaum noch Kontakt zu einander. So prallen dann die Gegensätze aufeinander.

Das Erdwesen kam tiefenentspannt und komplett erledigt mit dem Fahrrad von der Arbeit als plötzlich ein Kleinwagen aus dem Parkstreifen rechts von der viel befahrenen Straße mit nur eingemaltem Fahrradweg zog. Nicht schnell. Ganz langsam. Vorsichtig. Aber beständig. Ausreichendes Bremsen war im Bereich des Unmöglichen, ein Ausweichen auf die Fahrbahn womöglich lebensgefährlich. Lediglich den Winkel des Aufschlags auf entweder die Motorhaube oder die Fahrbahn war noch einigermaßen bestimmbar. Ich entschied mich für die Motorhaube.

Das einzige, was in solchen Momenten des sicheren Crashs überhaupt noch geht, ist Brüllen. Brüllen um Leib und Leben zu retten und wenigstens das unvermeidliche Überrolltwerden zu verhindern. Genauso tat es dann auch das Erdwesen. Aus plötzlicher Panik heraus. Es war ohnehin schon ziemlich nah am Herzinfarkt.

Ein bis drei gut sichtbare Zentimeter seitlich vorm Vorderrad des Fahrrads kam das Vorderrad des Kleinwagens zum Stehen. Das war knapp. Eine der knappsten Sachen seit langem. Und wieder ist mir klar: Fahrradfahren in der Stadt ist weitaus gefährlicher als das Fahren mit einem Motorrad, besonders das Fahren mit einem weithin hörbaren Motorrad.

Der Schock beim Erdwesen saß wirklich tief und um den Stress abzubauen, gab es noch eine kräftige Salve für den Idioten am Steuer. Nur gut, dass das Erdwesen stimmlich bei Kräften ist und über eine Stimmfrequenz verfügt, die selbst Mauern mühelos durchdringt. Doch was weiter geschah, ist mehr als befremdlich.

„Ich lasse mir das nicht bieten! Ich bin kein Idiot!“, ertönte es kreischend aus dem Wagen, der hinter dem Erdwesen aus der Parklücke auf die Straße schoss, mit größtmöglichem Tempo bei heulendem Motor überholte, vor dem Erdwesen nach heftigem Wortgefecht auf beiden Seiten wieder einscherte.

Heraus sprang ein junger Mensch im viel zu großen Anzug, dazu eine typische Messekordel mit Namensschild um den dürren Hals und versperrte mit seinem Tun den an dieser Stelle nur eingemalten Fahrradweg. Das Erdwesen traute seinen Augen nicht und wich auf den Bürgersteig neben dem Auto aus. Der Anzugträger hüpfte behände nun auf den Bürgersteig, direkt vor das Fahrrad und suchte das Erdwesen an den Schultern zu packen.

Einfach draufhalten? Gar drüberfahren? Mit einem gezielten Faustschlag außer Gefecht setzen?

Bei seiner schmächtigen Statur wäre dem Erdwesen all dies möglich, besonders nach diesem großzügigen Adrenalinschub im Vorfeld. – Aber das Erdwesen hielt an. Das Erdwesen hatte nämlich seinen ruhigen Tag. Das Erdwesen hatte jetzt Wochenende. – Der Anzugträger bestand darauf, die Polizei zu holen und eine Anzeige wegen Beleidigung aufzugeben. Nun denn.

Das Erdwesen bekräftigte die Aussage, dass er ein Idiot sei. Sie fragte ihn, was wohl passiert wäre, wenn er nicht auf den letzten ein bis drei Zentimetern angehalten hätte. Er hätte das Erdwesen einfach überrollt. Das Erdwesen wäre tot!

Und von daher, so beschloss das Erdwesen, handelte es sich bei ihn um einen tatsächlichen Idioten. So einfach war das. Und wenn ihr das eine Anzeige wegen Beleidigung einbringen sollte, so würde sie das nun einfach unter „Erfahrung“ verbuchen. Vorausschauend erkundigte das Erdwesen sich, ob er Rechtsanwalt sei. Nein, war er nicht. Er war Chirurg!

Das war ja noch unglaublicher. Ein Chirurg. – Also eigentlich jemand, der Leben retten sollte statt wildfremde Erdwesen auf dem Weg ins Wochenende tot zu fahren. Dem Erdwesen verschlug es die Sprache, während er vollständig durchdrehte und in einem wilden Tanz um Auto, Fahrrad, Erdwesen herum sprang und auf sein IPhone eintippte, um endlich die Polizei zu erreichen, die hier mal ordentlich aufräumen musste.

Den letzten Chirurgen, den das Erdwesen getroffen hatte, war auch etwa in diesem Alter gewesen. Er hatte wegen seinem lädierten Knie nicht richtig laufen können und war beständig zwischen Notaufnahme, scherzenden Arbeitskolleginnen, wimmernden Patienten und dem Operationssaal hin und her gelaufen. Ein bemitleidenswertes Exemplar, was aber wenigstens hilfreiche Tabletten verschrieben hatte – nach einer schmerzvollen Wartezeit für das Erdwesen von immerhin fast 6 Stunden im normalen Chaos einer Notfallambulanz und einer langwierigen Aktion unter dem Titel „Suche nach einem Rezeptblock“.

Im Umgang mit vollständig überdrehten Ärzten muss man stets die Ruhe bewahren. Alles andere führt zu sehr schmerzhaften Muskelverspannungen im Rücken! Und dann wird man zu Ärzten geschickt, die womöglich noch überdrehter sind. Ein Teufelskreis. Hat man es erst einmal geschafft, keinen Arzt mehr aufsuchen zu müssen, weil man im Besitz sämtlicher Verordnungen und Arzneien ist, so ist die Genesung in der Regel nicht mehr weit.

Inzwischen hatte er die Polizei per IPhone erreicht. Seine erste Anweisung an die Polizei nach Nennung seines vollständigen Namens lautete, dass der Polizist doch bitte die Freisprecheinrichtung ausschalten möge, da er kaum etwas verstehen könne! Nachdem das offenkundig erledigt war, teilte er seinen Standort mit. Ist klar, dass die Polizei, besonders der Beamte am Notruf, jede Imbissbude der gesamten Stadt kennt. Dann berichtete er von der Bedrohung durch eine schimpfende Radfahrerin, die ihn aufs widerwärtigste beleidigt hätte. Es folgte Stille. Dann sagte er „Ja, die steht hier noch. Sie hat freundlicherweise angehalten.“ – Erdwesen lauschte gespannt. – ‚Angehalten‘ traf es nach Erdwesens Einschätzung irgendwie nicht ganz. – Die hagere Gestalt mit der wenig imposanten Muskulatur straffte sich: „Also, sie müssen in 5 Minuten da sein! Ich habe keine Zeit! Ich habe einen wichtigen Termin!“ – Erdwesen schaute – ähm – verblüfft.

Nee, is schon klar. In Hannover geschehen Morde, werden in Kellern von Wohnhäusern in der List Bomben gebastelt, Menschen fallen versehentlich in 20 Meter tiefe Lüftungsschächte, eventuell etabliert sich am Steintor ein komplett neues Bandenwesen, weil der Hanebuth in Malle im Knast sitzt und keinen persönlichen Einfluss mehr auf die Geschehnisse nehmen kann und der Herr Nachwuchs-Chirurg muss sich von einer Radfahrerin, die er in seiner unendlichen Hektik fast zu Tode gefahren hätte, anpöbeln lassen. Wer hätte da nicht an seiner Stelle die Polizei angerufen und verlangt, dass die in genau aller spätestens 5 Minuten vor Ort zu sein hat!?

Das Telefonat war beendet. Der Herr Chirurg zog tänzelnd eine letzte gehetzte Runde um sein Opfer und ihr Fahrrad, umrundete nochmal sein Auto. Stand zwischen Auto und Fahrrad. Schaute auf sein Opfer, schaute auf sein IPhone, schaute auf die Armbanduhr. Das Opfer wartete und besah sich diesen armen Menschen. Empfand Mitgefühl. Mitgefühl trotz allem: „Ich glaube, die Polizei hat für so etwas überhaupt keine Zeit.“ Er sah mich an. Er sah auf sein IPhone. Er sah mich nochmal an. Irgendwie schien er nachzudenken. Zum ersten mal.

Warum tun sich Ärzte so etwas an? So geldgeil kann man doch gar nicht sein. Wie will jemand, der so drauf ist, denn anderen helfen können? Der braucht doch selbst erstmal Hilfe!

Dann die endgültige Wendung.

„Das wird mir jetzt zu dumm.“, sagte er tonlos, rannte zu seinem Auto, riss die Fahrertür auf, sprang behände hinter das Lenkrad, lies den Wagen an, der genauso mickrig wirkte wie er, machte das Fenster seiner Beifahrertür per Knopfdruck zu und raste in die nächste Seitenstraße und war auf und davon.

Das Erdwesen befestigte seine Tasche wieder auf dem Gepäckträger und fuhr nachdenklich los, warf einen vorsichtigen Blick in die Seitenstraße. Vielleicht hatte er da ja geparkt, um erstmal zur Ruhe zu kommen?

Die Seitenstraße war leer und der Kleinwagen war nirgends zu erkennen, aber er war auch sehr unauffällig gewesen. Nachdenklich fuhr das Erdwesen heim. In aller Ruhe und mit aller gebotenen Vorsicht. Für heute war das genug. Eindeutig genug. – Wenn man gerade noch einmal mit dem eigenen Leben davon gekommen ist, sollte man den Bogen nicht überspannen. Auch Schutzengel brauchen mal Pause.

Zu Hause recherchierte das Erdwesen, um welche Koryphäe des Handwerks es sich hier gehandelt hatte und wurde fündig.

Ein totaler Überflieger. Jemand der es nachweislich „geschafft“ hat. Hält Vorträge in der ganzen Welt, zeigt jedem eine neue Technik der Operation im Auftrage seines Arbeitgebers. Eines Arbeitgebers, der sich damit brüstet, dass jeder der angestellten Ärzte so und so viele tausend Patienten hat und auch noch zig Vorträge auf der ganzen Welt im Jahr hält. Es wäre müßig, die quantitativen Parameter so umzurechnen, dass sich die exakte Minutenzahl ergäbe, die sich einer dieser Ärzte tatsächlich noch mit einem Patienten pro Besuch beschäftigt. Es wäre müßig, selbst wenn man annähme, die Ärzte arbeiteten 24 Stunden durch und eine Reise von hier nach Australien dauerte nur 30 Minuten.

Der Unfallchirurg hatte mit seinem Chef den ganzen Tag gezeigt, wie man operiert und war dann – aus welchem Grund auch immer – vor dem Abendessen im Rahmen des Kongresses kurz nach Hause gefahren. – Als er mich fast überfahren hätte, musste er schon wieder los. Und da komme ich und brülle ihn an, dass er Idiot mich fast tot gefahren hätte.

Ich frage mich, warum so etwas passiert. Ich frage mich, warum das genau so passiert ist.

Vielleicht wurde damit irgendeinem anderen Menschen tatsächlich das Leben gerettet, weil dieser junge und vollständig ausgepowerte Chirurg vielleicht später doch nochmal an den Vorfall gedacht hat? Weil er vielleicht dadurch doch noch darüber nachgedacht hat, warum es überhaupt so weit gekommen ist? Wenn er so hektisch ausrastet, wenn er einen Patienten operiert – man darf nicht darüber nachdenken. Da ist dann auch die verwendete ultra-neumodische Operationsmethode komplett egal. Auch dann wäre er nur noch „der Idiot“. Oder ist er es vielleicht schon? – Der Volltrottel, der für seinen Chef die Lorbeeren pflanzt.

Aber vielleicht denkst Du ja mal darüber nach, völlig überdrehter Unfallchirurg, wenn Du das hier liest. Vielleicht schaust Du mal, ob Dir so ein Leben wirklich gefällt. Ob Du, der Du offenkundig ein engagierter Arzt bist, wirklich das tust, was Du Dir am Anfang Deines Studiums vorgenommen hattest. Oder ist da inzwischen nicht doch etwas arg durcheinander gekommen in Deinem Leben? Du hast es ja sogar verpasst, Dir wenigstens ein schickes Auto zu kaufen, geschweige denn, einen passenden gut sitzenden Anzug!

Auch wenn das für mich als Zweiradfahrerin vielleicht nicht ganz so einfach ist, werde ich mich bemühen, niemals auch nur in die Nähe Eurer Vorzeige-Praxis zu kommen. Was anderes bleibt mir als die Hoffnung?

Ich glaube einfach fest daran, dass meine Schutzengel noch so manches mal den Turbo anschmeißen, wenn ich sie weiterhin regelmäßig trainiere und sie immer in aller Ruhe die Wacht halten, und ich wünsche Dir, dass Deine für Dich das gleiche tun, Unfallchirurg von angehendem Weltruhm.

Über Erdwesen

Erdwesen ist ein Erdwesen! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Erdwesen schreibt aber auch noch in einer Reihe von anderen Foren und es gibt auch Foren, in denen sie sich so unbeliebt gemacht hat, dass sie dort heute besser nicht mehr schreibt.
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