Es gibt Tage, an denen sollte man am besten gar nicht aufstehen. Zu dumm nur, dass man gelegentlich nicht einmal ahnt, wie übel es an so einem Tag laufen kann.
So ist man denn am frühen Morgen noch frohen Mutes, hat sogar Zeit für ein Frühstück oder den Abwasch vom Vortag, kramt seine Sportsachen zusammen und zieht in Richtung Reha-Praxis. Okay, das Erdwesen hatte auch noch eine Tasche mit ausgemusterten Büchern für den Bücherschrank dabei.
Im Bücherschrank war ausreichend Platz und so drapierte sie die zum Teil dicken Wälzer gut sichtbar. Irgendwer würde sie sicher haben wollen.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es nun hohe Zeit sei, sich zur Reha-Praxis zu begeben. Das Fahrrad war schnell geparkt, die 150 Meter zur Praxis zurückgelegt und die zwei Stockwerke mit dem Fahrstuhl ohne Mühe erklommen. Der Sport kommt ja schließlich erst später.
Drei Minuten vor Start trifft also das Erdwesen ein, erhält ihren abzuarbeitenden Gymnastikplan und den Behandlungszettel für die Physiotherapeutin. Die kommt mit sechs Minuten Verspätung, was für die übrigen Mitarbeiter/innen in dieser Praxis höchst ungewöhnlich ist. Da wir uns erst gestern noch gesehen haben, gibt es kaum Neues zu vermelden und da sich die Dame auch eher weniger anstrengen möchte und das Erdwesen auch verhindern möchte, dass sie durch die Behandlung wieder noch mehr Schmerzen hat, wird die Sportecke erstürmt. Da wir ja schon im zeitlichen Verzug sind, natürlich mit Straßenschuhen. Ich meine, es gibt zwar Umkleiden, aber für eine Krankengymnastiksitzung geht man im Normalfall in einen separaten Raum und dort kann man sich dann der Sachen sowieso entledigen und hinterher einschließen.
Bei dieser Dame ist eben alles anders. Also sind die Straßenschuhe im Nu gegen Sportschuhe getauscht und die Dame vollführt die erste Übung zum Nachturnen. Immer noch besser als gestern, wo wir mit kalten Muskeln gleich mit den Dehnübungen angefangen sind. Dass man das eher nicht tun sollte, ist inzwischen sogar beim Erdwesen angekommen.
Heute wird ein Holzstab geschwungen und das ganze auch noch balancierend auf einer Rolle stehend. Nicht unmöglich, aber eben auch nicht auf Anhieb nachvollziehbar – jedenfalls nicht für ein Erdwesen. Die Dame bringts zum Lachen – zum Auslachen. Blöder geht´s nicht. Und schon gar nicht, wenn um einen herum gefühlte 8 Leute mit Betreuer gleichzeitig irgendwelche Verrenkungen machen müssen. Komischerweise lacht ja keine der übrigen Physiotherapeutinnen, aber sicher machen alle übrigen Patienten das auch auf Anhieb besser…
Nach vier unterschiedlichen Übungen, von der eine die Dame selbst als nicht brauchbar abqualifiziert, ist noch ein wenig Restzeit. Oh, das Erdwesen hat sich die Übungen vom Vortag aufgemalt – selber! Wie lustig für die Dame. Ja, ich find´s auch komisch. Komisch, dass Du mir die Übungen nicht selber aufmalst – so wie alle Deine Kolleginnen das auch tun, Du Pappnase!
Dann auch noch Elektrotherapie. Bisher hatte ich kaum je das Gefühl, dass das irgendetwas gebracht hat. Aber wenn es der Reha-Praxis Geld bringt und die Krankenkasse zahlt, opfere ich gerne die 20 Minuten Lebenszeit. Irgendwie muss die Wirtschaft ja laufen und ich kann derweil entspannen und die Übungen im Geiste noch einmal Revue passieren lassen.
Ich lege mich auf die Liege und werde mich keinen Millimeter mehr bewegen, damit diese Saugnäpfe sich nicht wieder lösen, wie ein paar Tage zuvor. Die Dame hantiert merkwürdig lange noch im Raum herum. Dabei passt doch schon alles. Oh, es kommen noch einige wirklich freundliche Anmerkungen? – Oh no! Fishing for compliments nennt der Engländer das. Und ich habe ein festes Budget für Trinkgeld. Aber dieses Trinkgeld wird zwischen denjenigen aufgeteilt, die es sich wirklich verdient haben, weil sie wirklich gute Arbeit leisten und nicht andere ihre Arbeit mitmachen lassen.
Dann geht´s weiter mit dem Reha-Sport. Heute habe ich viel zu wenig Zeit, da der super-duper Arzt ziemlich lange in Urlaub war, nun aber doch wieder da ist. Also überlege ich, was ich am ehesten weglassen kann. Fahrradfahren und Crosstrainer. Das bringt mir einen zeitlichen Vorteil von immerhin fast 30 Minuten! Außerdem fallen die freiwilligen Sachen weg. Die machen zwar Spaß, aber da die Ausführung immer noch eine Herausforderung ist, habe ich heute keine Zeit dafür. So gibt es nur das straffe Programm, was schwer genug ist, da in der Bude fast kein freier Platz ist, um die benötigten Dinge in Position zu bringen. Alles schnell abgehakt und dann noch schneller raus aus der Reha-Praxis. Anstrengend war´s trotzdem und irgendwann muss ich ja auch noch 6 Stunden arbeiten und die progressive Muskelentspannung machen, die mit 30 Minuten ein weiterer Zeitfresser ist. Die ganzen Wege von hier nach da, die rechne ich schon gar nicht mehr. Ich bin ziemlich stressfest, nur diese gigantischsten Beinschmerzen, die ich jemals hatte, die haben mich wirklich fertig gemacht.
Um drei Minuten vor der vereinbarten Zeit erscheine ich in der Arztpraxis. Ironie des Schicksals: Ich muss – was sehr ungewöhnlich ist – tatsächlich eine angemessene Zeit von 10 oder 15 Minuten warten. Es ist eine Chaos-Praxis und heute strahlt sie dieses Chaos auch wirklich aus.
Dem Arzt, der genauso gut Metzger hätte werden können, scheint seinen Urlaub irgendwie nicht ganz verkraftet zu haben. Er bricht alle Rekorde und nimmt drei Telefonate an, während ich in seinem Behandlungszimmer weile – oder hat er bei dem dritten Anruf das Telefon tatsächlich klingeln lassen? Zu einer entspannten und vertrauensvollen Atmosphäre trägt diese Ruhestörung sicher nicht bei. Nun gut. Ein Telefonat oder drei Telefonate. Wo ist der Unterschied?
Aber was mir größere Sorge bereitet ist die Tatsache, dass er nun auf einmal so tut, als sei ich tatsächlich schwer krank. Ja, herrje. Ich war so etwa 3,5 Monate krank, aber jetzt fühle ich mich doch wieder fast so fit wie´n Turnschuh. Was sind schon 8 Stunden arbeiten verglichen mit diesem Leistungsdruck, den ich in den letzten vier oder fünf Wochen hatte, wo ich wiedereingegliedert wurde und zeitgleich diese Horrortherapie machen musste? Kein Schwein hat sich drum gekümmert. – Eine potenzielle Dienstreise ins Rheinland? Daran erinnert er sich plötzlich noch? Junge, Du wolltest mich schon vor vier oder fünf Wochen Gesund schreiben und da wäre ich längst ein paar Tage in Süddeutschland gewesen. Nun stell Dich mal nicht so an. – Oh Motorrad fährst Du auch? Wie das jetzt? Machst Du jetzt einen auf „Kumpel“??
Nein, er sagt mir nicht, dass ich wieder gesund bin. Das machen wir alles nächste Woche. Ach nee. Geht ja nicht. Meine potentielle Dienstreise, Dein Betriebsausflug und ich denke nur, dass ich ab Mitte September eigentlich wieder ein ganz normales Leben führen wollte. Da passen keine Arzttermine rein, aber so weit kommt es nicht. In zwei Tagen soll ich erfahren, ob ich wieder gesund sein werde. Naja. Nach diesen Horrortrips zweifle ich langsam selbst daran. Aber ich habe ja vorher zum Glück noch eine Sitzung in Sachen Stressbewältigung! – Auch wenn die in Eurem Abstellraum stattfindet.
Dann kommt es jedoch zum Problem. Zusammen mit dem Arzt an der Rezeption angekommen, muss er gleich das nächste Telefonat annehmen. Mir solls recht ein. Zunächst benötige ich nur einen Stempel auf meinen Auszahlungsschein für das Krankengeld. Den bekomme ich auch. Aber dann fehlen mir zwei oder drei Schmerztagebücher. Kurz und gut, plötzlich flackert irgendeine Angst durch die ganze Praxis – der Arzt hat den Schauplatz gerade erst verlassen – dass die Krankenkasse am Ende meine tolle Horrotherapie gar nicht wird bezahlen wollen, denn: Ich habe die unendliche Frechheit besessen, das erste Datum der Schmerztagebücher falsch zu schreiben und dummerweise mit Montag begonnen. Interessanterweise hatte ich dieses Datum gar nicht eingetragen, sondern eine Sprechstundenhilfe. Und ich erinnere mich noch an meine Worte: „Ist es denn sinnvoll, die Schmerzen von gestern hier heute einzutragen?“ – Ja, das sei so. – Nun gut. Und doch. So schlecht.
Es kommt zum Eklat. Ich erkläre, nur das erste Blatt müsse von diesen Schmerztagebüchern ausgetauscht werden und ganz ans Ende korrigiert wieder angefügt werden, aber die Arzthelferin fängt an, mit großzügiger Schrift ein jedes von mir hingeschriebene Datum zu übermalen und dann den Wochentag anzupassen. Mit anderen Worten: sie fälscht die ganze Statistik. Nun stehen also alle Schmerzen, die ich hatte, bei einem Tag später. Und das nur, damit die Praxis die Therapie bezahlt bekommt? Wie werden die sich erklären, dass ich ab sofort immer Montags weniger Schmerzen hatte, statt Sonntags, wo ich nix machen musste?
Schwachfug.
Die Arzthelferin ergießt sich in wortreichen Erklärungen. Für so dumm hätte ich sie in der Tat nicht gehalten. Sie braucht unbedingt eine Sitzung bei der Psychologin für das Stressmanagement. Die Tipps helfen wirklich! – Nun gut. – Momentan belässt sie es dabei, mich aneinandergereiht ca. 10 mal zu belehren, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es ist sicher eine Marotte von mir, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn offizielle Statistiken gefälscht werden. Ich habe das sogar abgelehnt, als ich eines schönen Tages einen Anruf aus einem Ministerium bekam, wo sich wer über eine meiner Statistiken mokierte. Dabei war es mir, nachdem ich diesen Part übernommen hatte, zum ersten male gelungen, ein voll nachvollziehbares Berechnungs- und Auswerteprogramm programmieren zu lassen! Und wenn schon ein Ministerialbeamter mich nicht umstimmen kann und ich Angebote ausschlage, um der Statistik einen angenehmeren Inhalt zu spendieren, dann wird mich auch keine Arzthelferin umstimmen können.
Das Erdwesen verharrte am Tresen. Nein, hier könne ich nicht stehen bleiben. Das wäre gegen den Datenschutz, fiel der Arzthelferin endlich ein. – Ahja. – Ein wahrlich schlagendes Argument. Aber warum habt Ihr mir Unterlagen gegeben, auf denen unter einer dünnen Schicht Tippex die komplette Adresse derjenigen Dame steht, die für Eure Horrotherapie wohl nicht geeignet war und deren Platz ich statt dessen einnehmen durfte? – Ich behalte meine Gedanken für mich.
Ich gehe ins Wartezimmer und komme endlich dazu, fast die komplette Geo zu lesen. Da ist ein Bericht über Messies drin. Das passt irgendwie sehr gut zu dieser Chaos-Praxis. Nach ca. 1 Stunde hat die Arzthelferin die Schmerztagebücher so organisiert, dass nun in jedem frischen Buch ein Datum oben rechts steht, zu dem auch ein Wochentag angekreuzt ist. Ich bin tief beeindruckt. Schreiben kann sie offenbar, auch wenn sie dabei arg viel Tippex verbraucht, aber zum Glück landet das offenkundig immer noch auf Papier und nicht auf einem Monitor.
Ich beschließe, das ganze mit innerlichem Wohlwollen über mich ergehen zu lassen und konzentriere mich auf das reine Wahrnehmen. Das klappt wirklich sehr gut. Das hätte ich gar nicht gedacht. Ob ich weiter zu der Psychologin gehen werde, die mir zeigt, wie ich Stress bewältige? Was mag es noch für Techniken geben, die mir bisher alle völlig fremd sind?
Mit wortgewaltigen Erläuterungen präsentiert mir die Arzthelferin stolz Ihr Werk. Die eingetragenen Datumsangaben oben rechts – für 7 Hefte und zwei weitere Berichtshefte. Für jeden Tag der Therapie! Das alles hätte mich nicht schocken können – wie gesagt: Stressmanagement habe ich ja jetzt drauf, aber irgendwie kann ich es doch nicht fassen, wenn mich eine Blödziege für wirklich blöd hält – wobei ich sicherlich nicht die Hellste bin – weil: sonst hätte ich mich nicht in diese Horrotherapie begeben. Niemand hätte das, hätte man irgendwem gesagt, was einen hier erwartet.
Stolz sortiert sie mir die 7 Doppelhefte vor. Sie hat immer zwei zusammengeheftet. Mit einer kleinen Büroklammer! Damit ich auch ja nicht durcheinander komme. Man könnte meinen, ich bin nicht hier wegen Rückenproblemen, sondern wegen akuter Geisteskrankheit. Aber gut. Ich sage nichts und ich nehme nur wahr. Ich verplempere hier Lebenszeit, aber ich betrachte diese innerlichen Gedanken mit Wohlwollen und so schaffe ich es tatsächlich, der Arzthelferin in ihren Ausführungen interessiert zu folgen.
Sie nimmt jetzt das erste Heft vom Stapel:
„Sehen Sie? Das ist das Heft, welches sie ausgefüllt haben und welches mit dem Montag beginnt, an dem sie noch nicht bei uns in Behandlung waren.“ – Ich nicke.
Sie nimmt jetzt das zweite Heft, welches am ersten mit der Büroklammer befestigt war. Sie schlägt es auf. Es ist das Blanko-Heft.
„Sehen Sie? Dies ist das neue Heft, welches jetzt mit Dienstag beginnt. Und damit sie das auch erkennen können, habe ich das Datum hier oben rechts eingetragen und hier oben den Dienstag angekreuzt.“ – Ich nicke.
Sie schlägt jetzt die Seite um.
„Sehen Sie?“ Zur Unterstützung meiner mangelhaften Wahrnehmung weist sie mit dem Finger zielsicher über diejenige (linke) Seite, die ich mir genau anschauen soll. – Ich versuche, hochgradig interessiert zu schauen und intensiv wahrzunehmen.
„Diese Seite gehört immer zu der vorhergehenden.“ – Es überkommt mich und ich mache ein erstauntes Gesicht. Sie blättert noch einmal zurück, um mir diejenige Seite zu zeigen, die oben rechts den Datumseintrag samt Wochentag trägt. – Ich muss etwas an mich halten. Mit Mühe gelingt es mir, den in mir aufkommenden Gedanken daran, dass ich ja schon sechs dieser Hefte – davon eins immerhin selbständig als Vorlage kopiert – richtig und vollständig nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt habe. Ich muss diesen Gedanken wohlwollend…
„Sehen Sie? Hier…“ – Sie weist wieder auf die nachfolgende Doppelseite mit dem Datumseintrag für Mittwoch, „… steht der Eintrag für den Mittwoch.“ – Ich erstarre.
Sie blättert um und nachdem Sie mir das eingetragene Datum noch einmal vorgelesen hat, fährt sie fort „… und hier ist Donnerstag markiert“. – Oh Gott.
Ich erspare mir hier jetzt die entsprechenden Erläuterungen zu Freitag, Samstag, Sonntag und Montag wiederzugeben. Immerhin gelingt es mir, die Contenance zu wahren und immerhin artig zu nicken – zum Zeichen, dass ich wirklich begriffen habe.
Beim Montag wird es dann ungleich schwieriger. Denn da gilt es, den Wochenabschluss auszufüllen. Da ich meinen Wochenabschluss immer an einem Montag (also nach der Nacht vom Sonntag) ausgefüllt habe, liegt da nicht mal nach ihrer Logik ein Fehler vor! Aber wenn es der Arztpraxis dient, halb-schwachsinnigen Menschen Arbeit zu erhalten, bin ich gerne dazu bereit: „Nein, ich kann die Bücher nachführen. Ich habe ja 6 Stunden Wiedereingliederung!“. – So ein bißchen sticht mich halt der Hafer, aber wenn man es mit Wohlwollen sieht, dann ist Aufregen wirklich überflüssig. Jeder braucht seinen Spaß.
Das erste Buch ist geschafft. Trotzdem hoffe ich, dass es jetzt nicht weiter geht, aber es kommt eben oft anders als man denkt. Für einen selbst ist es jedoch enorm wichtig, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Das sehe ich ein. Das Abstellkammer-Büro der angeheuerten Psychologin ist hinter mir und anwesend ist sie auch. Irgendwie gibt mir das Kraft.
Die Arzthelferin heftet die beiden ersten Bücher wieder zusammen. Dann nimmt sie die beiden nächsten Bücher zur Hand.
„Sehen Sie? Hier ist das Buch, welches Sie schon falsch ausgefüllt haben.“ – Ich nicke. Ja, sie hatte mir im ersten Gespräch, bevor ich die Geo durchgelesen hatte, schon versichert, dass das wirklich nicht meine Schuld sei und sie das auch sicher nicht gesagt hätte. – Sie nimmt das Blanko-Exemplar und blättert auf die erste Doppelseite. Ich kann nicht anders und starre sie mit vor Schreck geweiteten Augen an.
Oh mein Gott.
„Sehen Sie? Hier beginnt das Buch mit Dienstag!“, und sie weist mit dem Finger auf das entsprechende Kreuz.
Irgendwo bei Donnerstag oder Freitag hört der Terror auf, aber mein beständiges Nicken ist bereits zu einem Automatismus geworden. Dummerweise hatte ich durch einen Reflex das erste auf dem Tresen liegende Doppelbuch umgedreht, so dass man den Stapel wieder so aufbauen kann, ohne dass etwas durcheinander gerät. Das war nicht vorgesehen. Die Büroklammer fällt ab, als sie das zweite Doppelbuch wieder anders herum einsortiert. Schnell holt sie eine neue Büroklammer, findet dann aber die abgefallene und kann die verwenden.
Neben ihr hinterm Tresen sitzt noch eine zweite Arzthelferin, die sogar mehr zu wiegen scheint als ich. Die ist jetzt mit Telefonieren fertig und meldet sich auch noch zu Wort und ergänzt ihre Kollegin nach bestem Vermögen: „Und sie hat sich wirklich Mühe gegeben, Ihnen die richtigen Datumsangaben auf jede Seite der 7 Hefte zu schreiben!“
Ist die auch so dumm? Oder bin ich hier vielleicht doch bei „Versteckte Kamera“? – Nein. Keine Anzeichen von irgendetwas Auffälligem. Die sind beide bei vollem Verstand. Naja. Was man eben so als „voll“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang.
Nun wird es wirklich kompliziert. Es gibt nämlich noch Ebenen-Tagebücher. Die sind eigentlich genau dann auszufüllen, wann es das Titelblatt vorgibt. – Um es kurz zu machen. –
Ich habe nicht genau gehört, wie sie das Ausfüllen erklärt, aber sie ging nicht zu sehr ins Detail und ich lasse mich mal einfach überraschen, ob ich jetzt das erste Ebenen-Tagebuch auch noch einmal ausfüllen muss oder nicht. Ich packte alles sorgsam in eine inzwischen oft benutzte Aldi-Gefriertüte, die sich als Transporter für Schmerztagebücher im DINA5-Format bei Starkregen bestens bewährt hat.
Plötzlich und unvermittelt versickert das wortreiche Geschwätz der Arzthelferin. Eine Dritte nimmt das inzwischen läutende Telefon an und „meine“ setzt sich mit Tippex und weiteren Schmerztagebüchern bewaffnet an einen hinteren Schreibtisch. Ich bleib mal lieber stehen, sonst legt man es mir noch als Flucht vor dem Feind aus.
Mit Überraschung fällt ihr nach einer Minute auf – nachdem mich die beiden anderen Damen ebenfalls schon etwas merkwürdig ansehen, während ich immer noch einen auf Schaf mache – dass ich weiterhin am Tresen stehe: „Ist noch etwas, Erdwesen?“, schallt es deutlich und glockenklar vom hinteren Schreibtisch. Ich frage, „Wir sind fertig?“ – „Ja, das sagte ich doch!“ – „Dann bis morgen.“
Schnell raus hier.
Ich rede eigentlich selten laut mir selbst, besonders nicht dann, wenn ich laut hallende Treppenflure nach unten eile, aber heute war es so weit. Heute war es wirklich so weit. – „Die haben wirklich alle einen Dachschaden.“, rief ich vor mich hin, während ich dem Ausgang entgegen strebte.
Ich fühlte mich wacklig auf den Beinen. Ich hatte nach dem Sport noch nichts getrunken. Mein letzter Besuch dieser Arztpraxis hatte 3,5 Minuten gedauert, nicht fast 2 Stunden.
Bei Kentucky Fried Chicken bestellte ich 0,5 l 7 Up mit Wasser verdünnt und dazu 6 Chicken Wings. Ich sollte wirklich alle Schmerztagebücher abschreiben und dann noch die letzten zwei Wochen aus der puren Erinnerung hinschreiben. – Die Suppe hatte ich mir selber eingebrockt. Irgendwie. Und irgendwie auch nicht. Der ganz alltägliche Wahnsinn.
Für die progressive Muskelentspannung hatte ich heute keine Zeit mehr. Schließlich musste ich vor Toresschluss noch meine 6 Stunden Wiedereingliederung absolvieren. Auf dem Weg dorthin kaufte ich in einer Apotheke zwei Päckchen Schlaf- und Nerventee. So etwas hilft. Das würde ich übermorgen der Arzthelferin geben. Meine Kollegin meinte mit ernster Miene, ich solle das Päckchen aber wenigstens sorgsam mit Schleife verpacken. Das hätte sicherlich eine gezieltere Wirkung.
Kann man sich einen Bodyguard eigentlich auch für die Dauer von 2,5 Stunden mieten? Ich muss mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wohlwollend natürlich.