Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen – Der Selbstbetrug der Mittelschicht (2010/2012)

Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen – Der Selbstbetrug der Mittelschicht (2010/2012).

Es ist jetzt schon eine ganze Zeit lang her, seitdem das Erdwesen sich an dieses Buch gemacht hat, aber es machte einfach keinen Spaß, über dieses Buch überhaupt noch etwas zu schreiben. Leider sind nämlich alle dargelegten Fakten richtig oder aber zumindest sehr gut nachvollziehbar und decken sich mit den Beobachtungen des Erdwesens.

Wie immer nach dem Lesen solcher Bücher, durch die man nur die eigene Sichtweise der Welt bestätigt haben möchte, bleibt ein fader Nachgeschmack und die Erkenntnis, dass man die eigenen Gedanken jetzt vermutlich besser auf den Punkt bringen kann als vorher.

Kurz zusammengefasst: Alle Deutschen halten sich für reicher (positiv ausgedrückt: wohlhabender) als sie eigentlich sind, denn sie messen sich stets an den in der Reichtumsskala über ihn stehenden, um ja nicht zu denen „unter ihnen“ gehören zu müssen. Dabei hat die Oberschicht Mechanismen entwickelt, um sich extrem von der Mittelschicht abzuschotten. Die Mittelschicht wähnt sich jedoch oft schon in der Oberschicht, während sie die Unterschicht mismutig als Nichtstuer beäugt. Gleiches tut übrigens die Oberschicht mit der Mittelschicht und auch innerhalb der Unterschicht, schauen die in der oberen Unterschicht auf die in der mittleren Unterschicht und die in der mittleren Unterschicht suchen verzweifelt nach noch weiter „unten“ befindlichen Mitmenschen.

Während das bei der Unterschicht zunächst einmal nicht so entscheidend ist, so ist es für die Mittelschicht geradezu fatal, sich vermeintlich der Oberschicht zugehörig zu fühlen. Tatsächlich ist die Oberschicht nämlich auch noch einmal aufgeteilt in reich, reicher und am reichsten. Wenn also z.B. von einem hohen Steuersatz für „Wohlhabende“ die Rede ist, dann meint die Mittelschicht, dass sie auch betroffen ist, obwohl sie noch meilenweit davon entfernt ist, diesen tatsächlich zahlen zu müssen.

Alles in allem führt dieser Selbstbetrug, um das eigene Selbst systematisch zu überhöhen jedoch dazu, dass die Steuersätze nicht für die tatsächlich reichen steigen – zum Beispiel auf 91% wie es vernünftig wäre, sondern die unteren Einkommen werden immer mehr belastet. Dies funktioniert auch, indem bestimmte Steuern als Versicherungen „getarnt“ werden. Will sagen: wenn ich viel einzahle, dann bekomme ich auch viel zurück. Wenn ich wenig einzahle, dann bekomme ich auch wenig zurück. Hierzu zählt z.B. die so genannten Krankenversicherung, die aber ja eigentlich nur eine Krankensteuer ist. Dummerweise muss aber nur derjenige unterhalb eines bestimmten Einkommens überhaupt zahlen. Verdient jemand mehr, ist das der „Krankenversicherung“ egal. Er zahlt den Höchstbeitrag und gut ist es oder er geht zur vermeintlichen „Konkurrenz“ der Privatversicherung für Kranke. So steht dieses Mehr an Geld, der Solidargemeinschaft aller Kranken und Bedürftigen nicht zur Verfügung.

Ulrike Herrmann beschreibt entsetzlich genau, wie der Mechanismus funktionert, der untere Einkommen systematisch benachteiligt, indem wohlhabende auf einfachste Art und Weise immer mehr Kapital um sich scharen können. Je weniger der arme Bevölkerungsteil jedoch besitzt, desto heftiger wird um diesen Besitz gestritten – freilich nur innerhalb des armen Bevölkerungsteils. Warum? – Sehr einfach: Die Lobby der reichen Bevölkerungsteile sorgt dafür, dass ihre Interessen gewahrt werden. Indem die, die es sich eigentlich gar nicht leisten können, die geldmäßig über ihnen stehende Bevölkerungsteile in ihrem Habitus imitieren, belasten sich diese Bevölkerungsgruppen immer weiter ohne jemals einen Anschluss an die über ihnen stehende Bevölkerungsgruppe bekommen zu können. Es ist wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel und alle Mechanismen zusammen und der Einfluss der Medien und der damit verbundenen groß angelegten Meinungsmache führen dazu, dass der Graben zwischen „arm“ und „reich“ immer tiefer aufreist und immer unüberwindlicher wird. Jeder lebt in seiner Welt und kann ihr nicht entkommen, weil die Welten sich immer fremder werden. Übergänge existieren praktisch nur von oben nach unten, nie oder fast nie jedoch von unten nach oben. Jede gesellschaftliche Schicht hat ihre eigenen Eigenarten, woran sie Mitglieder der gleichen Schicht zweifelsfrei erkennt und so die „Spreu vom Weizen“ einsortieren kann, um  – wenn irgend möglich – den eigenen Status zu wahren. Bei dem Hase und Igel Wettlauf jedoch, fallen zwangsläufig immer mehr Menschen herunter und können einfach nicht mehr fassen, wie reich die wirklich „Reichen“ inzwischen tatsächlich geworden sind. Zu sehr sind sie damit beschäftigt, nicht noch weiter nach unten zu fallen.

Lesenswert aber sehr deprimierend. Obrigkeitshörigkeit hat in Deutschland eine zu lange Tradition.

Über Erdwesen

Erdwesen ist ein Erdwesen! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Erdwesen schreibt aber auch noch in einer Reihe von anderen Foren und es gibt auch Foren, in denen sie sich so unbeliebt gemacht hat, dass sie dort heute besser nicht mehr schreibt.
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