Nach den übelsten Befürchtungen, dass die neue dOCUMENTA gar nicht besser sein kann als die letzte, in der 1000 Stühle mit 1000 Chinesen „ausgestellt“ waren, kehrte das Erdwesen auch von dieser Documenta hoch zufrieden heim. Dabei hat es nur die Documentahalle, das Fredericianum und das Ottoneum überhaupt gesehen. Mehr war trotz frühzeitigem Eintreffen in Kassel und einer Öffnungszeit bis 20 Uhr einfach nicht drin: zu viele gute Videoinstallationen und zu viele „Kunstwerke“, die die Welt erklären, aber zunächst einmal vom Betrachter „begriffen“ werden wollen.
So musste denn auch das „Brain“ weitestgehend unbeachtet bleiben und ein Blick von außen durch die Glasscheibe genügen. Die Schlange vorm Eingang war einfach zu lang und es gab noch unendlich viel zu sehen, was womöglicher imposanter oder sehenswerter war.
Der Schock beim Eintreten in die Documentahalle war nicht schlecht. Fürchterliche Schmierereien unter beigen Samtlaken [1]. Kein Wunder, dass diese „Malerei“ versteckt werden musste. Schätzungsweise 75% der Besucher hätten die dOCUMENTA schleunigst wieder verlassen, wenn alle Bilder gleichzeitig zu sehen gewesen wären. Danach folgte „Landschaftsmalerei“ [2], bestehend aus geometrischen Flächen in schreienenden, aber immerhin warmen Plakafarben. Dann das Kunstwerk, welches im Laufe der gesamten Veranstaltung schleichend überlackiert wird und erst einen Raum weiter wurde es wirklich besser.
Genial war die Licht-, Klanginstallation im Keller der Documentahalle [3], aber das Erdwesen-Highlight ist klar der Überlebenskoffer der zwei Südkoreanerinnen [4] und ihrem Team. – Wow! – Das Erdwesen war so begeistert, dass sie sich auch noch den Band I des Buches „News from Nowhere“ kaufte und wenn es irgendwo das Video gibt, dann will ich es haben!
Das beste Kunstwerk im Fredericianum? Schwer zu sagen. Am auffälligsten war vielleicht die Aborigine-Kunst [5] im Mäuselabyrinth des Fredericianums. Das beste jedoch waren die steinernden Bücher [6].
Nicht passend für eine Documenta war hingegen die Bildserie der Jüdin [7], die erleben musste, wie ihre ganze Famlie und zum Schluß sie selbst dahingerafft wurde. Auf einer Documenta hat man nicht die ausreichende Zeit, sich mit solch einem Thema ausreichend zu beschäftigen und so bleibt es bei einem kurzen erhaschten Eindruck, ohne dass dieser sich festigen könnte. Außerdem frage ich mich, wieso nicht alle Blätter ausgestellt wurden – klar, es wären mit über 600 Stück wirklich zu viele gewesen, aber wer hat genau diese Blätter ausgesucht? Ist nicht gerade erbaulich, wenn bei Schriftdarstellung exakt jedes zweite Blatt fehlt. Oder ist hier das „Eindruck erhaschen“ gewollt? So eine Serie benötigt mehr Raum (also wirklich Platz!) und vor allem mehr Ruhe und nicht Menschen, die dicht hintereinander gedrängt immer weiter daran vorbei eilen. Die im gleichen Raum dargestellte „arabische Vertreterin“ [8] mit ähnlichem Thema wirkte deplaziert und kam lange nicht vo der Darstellungstechnik her an die der Jüdin heran. – Andererseits kann man vermutlich nur auf einer Dokumenta zeitgleich die Schrecken des „jüdisch seins“ in Zeiten des Nationalsozialismus und den „Schrecken durch Israel“ im gleichen Raum ausstellen. Von daher kann man im Nachhinein nur anmerken: ja, gelungen. Nur kommt einem dies nicht in den vollen Ausstellungsräumen spontan in den Sinn.
Im Ottoneum war es die Reisdarstellung [9], die am interessantesten war. Die Thematik ist nun nicht gerade neu, aber die Art der Darstellung war gut. Dabei meine ich nicht unbedingt die Reisschälchen an der Wand, sondern eher die Art der Bücher. Die Bücher sind selbst sehr groß und enthalten entweder nichts oder nur ein klein wenig auf einer der beiden Seiten aus geschöpftem Papier. Die rechte Seite wir mit Bildchen oder Videos aus einem Beamer bestrahlt. Dadurch wird das Buch lebendig und bleibt doch trotzdem ein Buch, wirkt also weiterhin vollkommen analog. Eine sehr interessante Mischung!
Das Abschlußkunstwerk des Tages bildete der Bronzebaum [10] am Rande der Karlsaue, der einen großen Stein trägt. Danach ging es schleunigst zurück zum Bahnhof und schnell war auch der Entschluss gefasst, die dOCUMENTA ein zweites mal zu besuchen, denn es kann nicht angehen, dass man auf der dOCUMENTA war und doch nicht einmal annähernd die Hälfte überhaupt gesehen hat!
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[1] Gustav Metzge
[2] Etel Adnan
[3] Nalini Malani
[4] MOON Kyungwon & JEON Joonho
[5] Tjapaltjarri / Nakamarra
[6] Michael Rakowitz
[7] Charlotte Salomon
[8] Anna Boghiguian
[9] Amar Kanwar
[10] Guiseppe Penone