Donna Leon: Reiches Erbe – Commissario Brunettis 20. Fall (Hörbuch) gelesen von Jochen Striebeck (2012)
Auch Commissarios Brunettis 20. Fall erscheint in gewohnter Qualität und besitzt eine Lösung, wie sie nur ein Brunetti-Kriminalfall haben kann.
Das Erdwesen müsste etwa fünf oder sechs andere Brunettis gelesen haben. Donna Leons Fähigkeit, die Dinge genau zu beschreiben, ist auch im 20. Band schön zu erkennen, und dem Sprecher in diesem Hörbuch mag man gerne zuhören. Trotzdem meine ich, ist man mit den Brunetti-Romanen als Leser besser beraten, denn nicht selten geschah es, dass das Erdesen doch nochmal ein oder zwei Minuten auf der CD zurückgehen musste, um auch die letzten Feinheiten des Textes zu erfassen.
Der Schreibstil Donna Leons und die guter Übersetzung des Diogenes Verlags machen nämlich das Lesen zu einem Genuß, so dass man recht oft nur aus Freude an der ausgeführten Wortwahl die ein oder andere Textpassage noch einmal liest – aus dem purem Vergnügen am Lesen also. Bei einer CD, die lediglich in Kapitel, aber nunmal nicht in Absätze gegliedert ist, fällt es schwer, hier die passende Passage wiederzufinden. Außerdem ist es hinderlich, 1:03 Minuten Realzeit zurück zu springen, während sich innerhalb der Handlung eine völlig andere Zeitspanne ergeben hat. Auch hat das Erdwesen gemerkt, dass sie nicht unbedingt gut darain ist, sich italienische Namen nur vom Hören her zu merken. So kam das Erdwesen dann doch oft durcheiander und erst im Nachhien erfuhr sie, um wen es gerade ging. Das alles macht zwar das reine Hören aus Freude an der Gewandtheit der Schreiberin weiterhin zu einem Genuß, ist dem Verfolgen des Kriminalfalles allzu oft aber alles andere als zuträglich.
Obwohl die Kriminalfälle Brunettis „nur“ Kriminalfälle sind, so ist jeder für sich doch ein Buch, welches man für gewöhnlich langsam liest. Es läßt dem Leser viel Freiraum für eigene Gedanken, eigene Schlußfolgerungen und eigene Überlegungen, was jetzt wohl wie sich zugetragen haben könnte. Beim Lesen bestimmt man das Tempo selbst, im Hörbuch wird dieses Tempo jedoch vorgegeben. Nun hat der Hörer keine Zeit, noch seinen Gedanken nach zu hängen, während Brunetti schon wieder am Mittagstisch sitzt und dabei ist, einen „Muhjeee“ (bei REWE für 36,95 Euro die Flasche) einzuschenken. So geraten Passagen in den Vordergrund, die eigentlich nur der Reflexion des Lesers dienen, denn der kann gerade nicht sein eigenes Tempo bestimmen, sondern dies wird vom Sprecher und der Technik vorgegeben. Aus all diesen Gründen würde ich beim nächsten mal wieder ein Buch kaufen und keine Hör-CD.
Andererseits hat die Hör-CD natürlich einen großen Vorteil und ich werde beim nächsten Lesen eines Brunetti-Buches sicher viele Namen richtiger aussprechen als ich das bisher tat, aber noch eine andere Sache ist mir aufgefallen. Beschrieb Donna Leon in den ersten vier, fünf oder sechs Brunetti-Romanen Venedig nicht lebendiger? Sind es jetzt doch nicht eher, ähnlich eines Navigationsgerätes Abfolgen von Straßennamen als wirkliche Beschreibungen? Noch immer durchwandert Brunetti Venedigs Straßen, ohne darüber nachzudenken, wohin er sich wenden muss, aber kann das einen Europäer wirklich beeindrucken? Oder steht dahinter womöglich die amerikanische Lesart, denn in Amerika geht man bekanntlich kein noch so kleines Stück zu Fuß – es sei denn, man ist gerade in New York oder es handelt sich um Vater und Sohn, die „zum Fischen“ ein Wochenende in die Berge fahren. Oder hängt auch dieser Eindruck mit dem „unangepassten Lesetempo“ zusammen, welches der Leser so hinnehmen muss wie es die Hör-CD vorgibt?
Nehmen nicht doch einzelne Passagen des Privatlebens des Commissario mehr Raum ein als notwendig wäre? Oder ist es nur ein Abbild der derzeitigen Norditaliener, was uns Donna Leon hier präsentiert? Auch womöglich 20 Jahre nach dem ersten Brunetti-Fall hat sich die Familie kaum verändert. Hätten nicht auch die Protagonisten selber älter werden müssen?
Das ist wohl das Problem, wenn man eine Serie schreibt. Die Leser verändern sich sich über die Jahre, werden älter, haben andere Themen im Kopf. Aber die Protagonisten bleiben gleich. Dadurch wird eine gute Serie sicher nicht schlecher, aber das ist rein objektiv gesehen, denn aus Sicht eines lebendigen Menschen sind die Protagonisten aktuell, wenn der erste Band herauskommt. Zwangsläufig gibt es damit Probleme, wenn es sich aber schon um Band 20. – 20 Jahre später handelt.
Auch fand ich, dass Donna Loens scharfer Blick beginnt trübe zu werden, was ihr Italien angeht. Wer weiß? Vielleicht lag es am Hörbuch, vielleicht liegt es an den feste Handlungsschemata ihrer Dauerprotagonisten und der Tatsache, dass sie nicht im Jetzt, sondern in „ihrer Zeit“ leben. Ich vermute, die Realität und die statische Welt der Protagonisten driftet mittlerweile durch die pure Fortsetzung unserer Gesellschaft langsam zu sehr auseinander.
Vor einigen Jahren hatte ich bei eBay die bis dato komplette Serie von Fällen ertsteigert und war restlos begeistert über das Vorstellen dieser einzigartigen Stadt, über das Vertrautwerden mit den Charakteren, was letzten Endes mit einer Zugfahrt nach Venedig und der dortigen Dauernutzung der Vaporettos endete, wenngleich auch der erste Auslöser für diese Reise eigentlich James Bond war und Brunetti nur die Folge.
Die Brunetti-Romane sind schön zu lesen, dennoch sind sie allesamt gleich aufgebaut. Immer steht ein politisches, sowie ein in damit Zusammenhang stehendes weiteres Thema im Vordergrund. Dazu gibt es eine feste Größe an Themen, die sich in jedem Brunetti-Roman wiederfindet. Die Personen agieren so wie sie seit womöglich 20 Büchern agieren müssen. Nichtmal im „Tatort“ gibt es eine solche Regelmäßigkeit.
Natürlich ist auch dieser 20. Fall ausgefeilt. Ohne Sinn und Verstand gelesen, wird auch hier der unbedarfte Leser sich fragen: „ja und?“, und damit die vielen ausgearbeiteten Feinheiten vermutlich gar nicht mitbekommen und trotzdem denken, er hätte ein „ganz gutes Buch“ gelesen oder – wie in meinem Falle – gehört.
Ganz fair ist meine Beurteilung nicht, denn es ist tatsächlich etwas anderes, ein gutes Buch zu lesen oder zu hören. Donna Loeons Bücher sind „leicht“ genug, um gehört zu werden, aber wer sich auch an den vielen Feinheiten erfreuen kann und möchte, der sollte weiterhin zum selbst zu lesenden Text greifen, sonst droht das ganze zu schnell zu einer allzu schematischen Angelegnheit zu werden. Das Erdwesen ist jedenfalls gespannt auf Brunettis 21. Fall.