Sonya Winterberg: Wir sind die Wolfskinder – Verlassen in Ostpreußen, 2012

Gleich der Bucheinband dieses Buches zeigt, worum es geht und zeigt es doch gleichzeitig wieder nicht, denn dass die Wolfskinder noch so zivilisiert dreinschauten, wie die verängstigten Kinder auf dem Einband, scheint nach der Lektüre mehr als nur unwahrscheinlich. Selbst wer nicht auf Anhieb weiß, was unter „Wolfskindern“ zu verstehen ist, kann es erahnen, sobald er den Begriff „Ostpreußen“ im Titel sieht.

Gesehen hatte ich das Buch in ein einem christlichen Buchgeschäft in Sachsen-Anhalt, in einer Stadt, in der Neonazis zum Stadtbild gehören wie die Polizeipferde zu Hannover.

Zunächst hatte ich gemutmaßt, mit diesen Kindern verhielte es sich genauso wie mit den Kindern in Ostdeutschland nach der Wende. Dort blieben auch Kinder zurück, während ihre Eltern ihr Glück in der Glitzerwelt des Westens suchten. Doch das ist nicht der Fall: Die Wolfskinder wurden nicht „freiwillig“ verlassen, sondern aus den Schilderungen geht hervor, dass die letzten Verwandten in der Regel durch Hunger und Gewalt einfach hinwegstarben. Oft blieb sogar nur ein etwas älteres Kind übrig, welches noch mehrere kleine bis sehr kleine Geschwister „verantwortlich“ im Schlepptau hatte. Zu oft, starben alsdann auch alle kleineren Geschwister aufgrund von Hunger, Witterung und Krankheit.

Alles in allem waren das keine neuen Erzählungen, denn auch Erdwesens Großmutter wurde in Königsberg geboren und hat sowohl den ersten als auch den zweiten Weltkrieg miterlebt. Den ersten als kleines Kind, welches sich im Spiel wähnte, auf große Hochzeitsreise zu gehen, den zweiten dann selbst mit drei kleinen Kindern. Mit knapper Not überlebte sie und zwei der Kinder. Ein drittes wurde wohl ähnlich „beerdigt“ wie so viele Kinder im letzten Kriegswinter.

Erzählungen über die Festung Königsberg, die hoffnungslosen Trecks und die unendlichen Fahrten in verplombten Viehwagons, die fortwährend beschossen wurden. Tja, irgendwie ist das alles nicht sehr beeindruckend für das Erdwesen, denn sie ist mit all diesen Erzählungen aufgewachsen.

Trotzdem wurden dem Erdwsen beim Lesen des Buches einige Dinge klarer als in den wirren Erzählungen, die früher stets mit dem Vorwurf „Du kannst Dir das sowieso nicht vorstellen wie das ist, wenn man alles verliert!“, endeten.

Die ostpreußischen Kinder lebten in Wohlstand und Sicherheit. Ostpreußen hatte den ersten Weltkrieg überstanden und würde auch den zweiten überstehen. Dies war eine Gewissheit für die Eltern, die sich als trügerisch und letztlich vollkommen falsch herausstellte.

Das Erdwesen hätte gerne gewußt, warum die Autorin sich überhaupt für dieses Thema intessierten. Hatte sie selbst Wuzeln in Ostpreußen? Geht sie eher mit sozialpolitischen Interesse an ihre Werk, das Leben der „verlassenen“ Kinder nachzuzeichnen?

Das Erdwesen hätte dazu nicht den ausreichenden „Nerv“ gefunden. Schließlich ist das Erdwesen in den 1970er Jahren schon mitten im Krieg um Ostpreußen aufgewachsen. Es fürchtete sich vor Bombenangriffen und war jederzeit bereit, bei Sirenenalarm, der damals noch häufig war, sozusagen „die Koffer“ zu packen und sich im Kartoffelkeller, dem einzigen „festen Bauwerk“ zu verstecken. So nah war Ostpreußen und die Flucht. Die Flucht hörte erst auf, als ihre Großmutter starb und fortan blieben die Flucht und die Hungerjahre lediglich latenter Begleiter ihres Lebens. Nein, ich hätte keine ausreichende Energie an den Tag legen können, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Dafür hatte ich als Kind schon viel zu viel davon gehört. Kritik oder Fragen zum Thema waren nie erwünscht. Vielmehr gab es permanenten Streit und permanente Zwietracht wegen diesem elenden Krieg.

Beim Lesen der ersten paar Seiten des Buches war ich sehr erstaunt, dass auf der Rückseite des Innenbuchdeckels eine Karte von ausgerechnet Litauen zu sehen ist. Sollte das Buch am Ende „mich“ gar nicht betreffen? Lag Ostpreußen nicht viel eher in Russland und in Polen? Auf der Vorderseite des Inneneinbands hingegen findet sich eine Karte von Ostpreußen – doch was sollte das miteinander zu tun haben?

Die Lösung ist indes denkbar einfach. Es geht um Kinder, die von Ostpreußen in die  Sowjetunion nach Litauen geflüchtet waren. Dort gab es zu Essen, wärhend Ostpreußen schlicht aufhörte zu existieren. Und diese Kinder wurden keinesfalls in dem Sinne verlassen wie wir es heute verstehen, sondern sie wurden „verlassen“ dadurch, dass zuerst ihre Verwandten von ihnen gingen, dann ihr Land und später sogar die Sowjetunion. Sie fanden sich in Litauen und erfuhren, um ihr Desaster sozusagen im schlimmsten Sinne eines Sinnes „perfekt“ zu machen, dass sie nun auch die Möglichkeit „verlassen hatte“, eine deutsche Staatsangehörigkeit jemals wieder zurück zu bekommen.

Unser Aussitz-Kanzler, der Kanzler der Einheit, wie er sich vermutlich jeden Abend beim Abendbrot mit seiner Gattin selbst belobigt, holte zwar massenhaft Wolgadeutsche aus Gott-weiß-woher „heim ins Reich“, welches inzwischen Bundesrepublik Deutschland hieß, er hatte es jedoch in keiner Wiese nötig, sich um ein paar Hundert verwaister, ehemaliger ostpreußischer Kinder zu kümmern, die ja mittlerweile im demokratischen Litauen lebten. Man kann sich als Deutsche nur für diesen Mann schämen – aber er ist ja nicht der einzige (ehemalige) Politiker, auf den das zutrifft. Besonders dann nicht, wenn man aus Hannover kommt.

Das Ziel der Bundesregierung war klar, denn Marktpotential gab es hier keines. Darum hatte man diese Kinder einfach auch noch während er Adenauer-Ära „vergessen“. Und wenn sie schon nicht existierten, warum sollte man den deutschen Staat heute plötzlich mit ihnen belasten?

Nur ein einziger Mann setzte sich für die Wolfskinder ein. Es muss ein seltsames Unterfangen gewesen sein, denn er schickte seinen 22-jährigen Sohn sowie einen Ministerialbeamten per Bulli mit Hilfsgütern in Richtung Litauen, während die deutsche Politik immer noch darauf hoffte, die inzwischen Alten mögen doch endlich wegsterben.

Welche Ironie der Geschichte, dass eine Delegation der Wolfskinder ausgerechnet auf Christian Wulff als Bundespräsidenten traf, der sie und ihr Anliegen kurzfristig erhörte. Herr Wulff, wie wäre es mit einer großzügigen privaten Spende aus Ihrem reichhaltigen Budget?

Stauder Stiftung
Konto 4531416
BLZ 60050101
Stichwort: Wolfskinder

Es ist ein jämmerlich-wiederliches Verhalten des deutschen Staates, welches er gegenüber den Wolfskindern zeigt, wenn die Worte der Autorin der Wahrheit entsprechen. Demokratie scheint zu bedeuten, dass eben auch immer eine Minderheit verliert. Und die Wolfskinder wurden schlicht „ausgegliedert“, auf ähnliche Art, wie man heute Staatsschulden aus dem Staatshaushalt „ausgliedert“.

Das Buch „Wir sind die Wolfskinder“ ist ein gutes Buch. Möglicherweise spricht es heute eher die an, die noch nie etwas mit „Ostpreußen“ zu tun hatten. Von der Recherche her ist es eine Meisterleistung, liest sich schnell und einfach. Die Bilder einiger interviewter Menschen finden sich ebenfalls im Buch und die Zusammenstellung der dargestellten Charaktere ist vielfältig und gelungen. Charaktergesichter, die haben sie alle – die Wolfskinder. Aber ansehen, was sie einst erlitten, kann man ihnen dennoch nicht. Sie wirken oft älter als sie tatsächlich sind und einige sind es ja tatsächlich auch, nur ging dieses Wissen verloren – verloren im Krieg in Ostpreußen und verloren mit Ostpreußen.

Eine einzige Sache hat das Erdwesen beim Lesen tatsächlich sehr gestört.

Einerseits zeichnet das Buch die Geschichte des Krieges bzw. der Nachkriegsentwicklung sehr gut nach. Dies funktioniert, indem die Versatzstücke der unzähligen Einzelschicksale in chronologischer Reihenfolge aneinandergestückelt wurden. So bekommt der Krieg die schreckliche Anschaulichkeit, die ihm gebührt. Beim Lesen wechselt man so von einer Person zur nächsten, ohne dass man es großartig merkt. Genau das ist ein großer Vorteil des Buches. Die Wolfskinder, die hier ihre Einzelschicksale zur Schau stellen, stehen nur stellvertretend für unendlich viele Kinder, die ihr Schicksal nicht bis heute überlebten. Man beschäftigt sich beim Lesen nicht in erster Linie mit Einzelschicksalen, sondern betrachtet wird immer das Ganze. Das ist klar die Stärke dieses Buches.

Wenn man jedoch den einzelnen Empfindungen und Handlungen der einzelnen Wolfskinder im Detail nachspüren möchte, so gibt es wahrscheinlich keine andere Möglichkeit, als eine Namensliste beim Lesen anzulegen und dazu die Seitenzahl zu notieren. Nur bei einigen Fällen war es dem Erdwesen möglich, zu erkennen, dass schon ein Versatzstück einer bestimmten Person zuvor behandelt worden war. Ein Personenregister mit Seitenangabe wäre hier viel hilfreicher als ein Register mit genannten Ortsnamen, die für dieses Buch klar eine untergordnete Rolle spiel. Aber die Ortsnamen sind wichtig für das Wiedererkennen.

Es ist ein gutes Buch und geeignet für Menschen, die den zweiten Weltkrieg abseits von technischen Errungenschaften und dem schlichten Voranschreiten und Zurückweichen der Front hautnah nachspüren möchten, wie er sich bis in unsere Zeit unermüdlich fortsetzt – auch dann, wenn er für unserer Politiker lange schon kein Thema mehr ist und die Mehrheit der Regierenden offenbar darauf wartet, dass die Zeit das Problem „schon lösen wird“.

Über Erdwesen

Erdwesen ist ein Erdwesen! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Erdwesen schreibt aber auch noch in einer Reihe von anderen Foren und es gibt auch Foren, in denen sie sich so unbeliebt gemacht hat, dass sie dort heute besser nicht mehr schreibt.
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