Die Atom-Prägung.

Warum aber beeindruckte diese ganze Atomsache das Erdwesen so nachhaltig? Hatte sie nicht im Kind im schwarz-weiß Fernsehen die Gewissheit erlangt, dass es spätestens wenn sie in die Schule käme für sie Flüge auf den Mond gäbe? – Manche Dinge scheinen anders zu kommen.

Die ganze Sache mit den Atomen war unwichtig. Bis auf das Atomium in Brüssel, von dem Erdwesens Vater einst behauptete, um auf seine schiere Bedeutung hinzuweisen, das kleine Erdwesen müsse nur die Augen richtig aufmachen und dann könne sie bis nach Brüssel zu diesem großen Atomium schauen. Das kleine Erdwesen strengte sich mächtig an, schaffte es aber nie.

In der Grundschule spielte Atom keine Rolle, denn schließlich ist das Erdwesen in NRW aufgewachsen! Was da zählte war der Bergbau. Auf Kohle basiert der Reichtum des Landes! – Das konnte das Erdwesen zwar auch nicht nachvollziehen, da sie um sich herum eigentlich nur jede Menge Rindviecher, grüne Weiden und hohe, uralte Eichen sah, aber irgendwann musste der Lehrer dann doch eingestehen, dass ausgerechnet in unserem Teil Westfalens eher die Landwirtschaft das Sagen hatte, aber immerhin gab es ja die stahlverarbeitende Industrie gleich nebenan und dann noch die Sache mit den Büchern in der Kreisstadt! Das Backpulver in der Stadt, die damals noch existierte, dann aber aufgrund der Einführung des Internets Anfang der 90er Jahre zu einem Gerücht wurde, wurde irgendwie nicht erwähnt.

Es war Ende 1985 als dann aus irgendeinem Grund plötzlich die Energiewirtschaft im Erdkundeunterricht behandelt wurde. Wir lernten alles und begriffen wenig. Nur auf eins legte unserer Lehrer wert, denn wir sollten, wenn wir schon allesamt Nieten in Mathe und Physik waren, dass eine Sache verdammt gefährlich war, weil sie schlicht heiß war. Sie konnte so heiß werden, dass alles schmolz. Das hatte man schon im zweiten Weltkrieg ausprobiert und es hatte auch in Amerika ein großes Unglück deswegen gegeben. Und in Frankreich hatte es einmal eine sehr berühmte Butter gegeben, aber da sich die Butter nach dem Bau dieser Anlage nicht mehr verkaufte, hatte man sie umbenennen müssen. La Hague war eine Wiederaufbereitungsanlage. Es sei verdammt teuer, Brennelemente wieder auf zu bereiten. Deswegen arbeitete man in Kalkar auch an dem Schnellen Brüter. Man steckt etwas Material hinein und man erhält viel mehr daraus zurück. Quasi ein Perpetuum Mobile. Wir waren begeistert! – Nur eins war dann nicht so dolle, dass nämlich nur eine winzige, nichtmal so richtig abwiegbare Menge Plutoniums ausreichen konnte, alle Menschen in der Bundesrepublik auf einen Schlag umzubringen. Was?!

Okay, ich gebe zu. Wir waren Kinder des Kalten Krieges. Was konnte uns noch erschrecken? Wenn der Osten auf den Westen knallt oder irgendwer mal einen Schalter verwechselt, dann öffenen sich überall die Raketensilos und dann wären wir sowieso tot, da wir nunmal ausgerechnet in der „Mitte“ wohnen, aber nun sollte es einen Stoff geben, von dem so eine winzige Menge gleich alle ohne jeglichen Knall umbringen können sollte?! Das ist schon irgendwie ein anderes Kaliber.

Währenddessen zeigte uns das große µ im Physikunterricht, was Alphastrahlen sind: Die sind gefährlich, aber steckt mal kurz alle Eure Nase drüber, weil ich hab die Dinger jetzt sichtbar gemacht. – Das Erdwesen war wenig begeistert, aber sieht das Bild noch heute deutlich vor sich. Physiklehrer hatten wohl alle einen Knall! Wer kann freiwillig so ein Zeug anfassen, wenn jeder weiß, dass man davon krank wird?! – Der Klassenstreber Müller hatte sich mal wieder freiwillig gemeldet, den Versuch vorzubereiten, aber der wollte ja auch mal ein großer Physiker werden und wir waren davon überzeugt, dass er das bringen würde, denn dazu musste man schon einigermaßen krank im Kopf sein.

Im Erdkundeunterricht nahmen wir derweil unterschiedliche Reaktortypen durch, weil wir einen Sonderfall gleich vor der Haustür stehen hatten. Hamm-Uentrop. Einen Thorium-Hochtemperatur Reaktor und damit einen besonderen sicheren Reaktor, weil er sich im Falle eines Falles schneller herunterfahren ließ, da er z.B. mit Thorium statt nur Wasser gekühlt wurde. Trotzdem war uns unwohl. Die meisten waren schonmal in Hamm gewesen. – Und was ist, wenn der hoch geht???

Zuerst druckste der Lehrer herum, auch wenn seine Meinung zu seinem Thema schon lange fest stand, aber wir wollten seine Meinung und nicht irgendwelches wissenschaftliches Zeugs wie beim gorßen µ. Also, wenn der hoch geht, dann sind wir 25 km weit weg. Das überlebt keiner. Das würden wir nichtmal überleben, wenn der Reaktor weiter weg stünde. – Wie weit? – Unser Lehrer wußte es nicht, versuchte aber trotzdem eine Antwort. Also, in Deutschland darf keiner hoch gehen. Sonst ist es echt aus. Wir können ja nirgendwo hin fliehen. Deutschland ist einfach zu klein.

Jemand bemerkte, er habe Verwandte in der Schweiz. Nein, das reicht nicht. Die Schweiz ist ja quasi gleich um die Ecke. Nichtmal 1000 km bis dorthin. – Wir wollten es wissen. Ja, aber wohin müssten wir gehen? – Unser Lehrer war ratlos und schaute auf unsere einzige Deutsch-Amerikanerin. – Ja, aber es kann doch nicht sein, dass wir gleich neben einem Atomkraftwerk wohnen und wir wissen nicht wie weit wir weg gehen müssen, um zu überleben?!

Unser Lehrer gab auf. Erstens wußte er es nicht, zweitens hatte er nicht vorgehabt, uns in Panik zu versetzen und in der aller ersten Linie hatte er wohl nicht erwartet, dass wir uns nun ausgerechnet auf einen potentiellen GAU vorzubereiten gedachten. Wie wäre es mit Luftschutzbunker? – Da geht die Strahlung durch. – So langsam bekamen wir doch ein beklommenes Gefühl. Lebensmittelvorräte? – Machen ja irgendwie keinen Sinn, wenn es die Strahlung ist, die problematisch ist. – Bleimäntel? Das Thema verließ den Erdkundeunterricht. Unser Lehrer musste andere Lehrer fragen, aber die hatten weit weniger Ahnung als er. Wir fragten unsere Eltern, aber denen war das ganze zu komplex und einige meinten, dass so etwas in Deutschland sowieso nie geschähe. – Und was ist, wenn es nebenan geschieht?

Währenddessen hatte das Erdwesen ein Referat über den THTR übernommen, weil es wenigstens wissen wollte, warum dieses Ding sicherer war als der Rest. – Unser Lehrer versuchte uns auch mal wieder für andere Dinge zu interessieren, aber wir waren wohl sehr stur und letzten Endes waren wir zu dem Schluss gekommen, dass es eben keinen GAU geben durfte in Europa, sonst wären wir alle weg vom Fenster. – Aber so etwas passiert echt nur sehr selten. Hoffentlich hatte unser Lehrer recht.

Und dann kam der Mai 1986 und die Nachricht, dass irgendwo in Skandinavien erhöhte Radioaktivität gemessen worden war. Die Maßeinheiten, die im Fernsehen präsentiert wurden, veränderten sich ständig. Niemand schien zu wissen, wie man damit umgehen sollte. Die Wolke sei noch weit weg und wir leben in der Westwindzone. Warum sind wir noch nicht tot? – Unser Lehrer schüttelte den Kopf. Vielleicht ist es nicht so schlimm. Vielleicht bläst der Wind alles in eine andere Richtung, aber es sieht nicht gut aus. Wir haben Ostwind.

Erdwesens Eltern waren ebenso ratlos wie der Lehrer und alle anderen Menschen. Am Donnerstag wurde eingekauft wie jeden Donnerstag. Mit der Liste stapfte das Erdwesen in den Laden. Was war das??? Die Paletten bei Aldi waren leergefegt. Keine Dosenerbsen, keine Pilze mehr. Fast alles war ausverkauft oder knapp davor ausverkauft zu sein.

Am Abend wurden die Büger gebeten, doch bitte keine weiteren Hamsterkäufe mehr zu tätigen. Etwas später kam ein Brief von der Molkerei. Die Milch sei weg zu schütten und würde nicht mehr abgeholt. In den Nachrichten wurde gesagt, Gemüse sei prinzipiell unterzupflügen und ungenießbar. – Das alles mochte noch angehen, aber Erdwesens Mutter holte wie jeden Tag einen frischen Kopfsalat aus dem Garten. Das Erdwesen war entsetzt, aber erst ab dem Zeitpunkt richtig, als Erdwesens Vater sich weigerte, diesen Salat zu essen. Ja, wir sollten ihn nicht einmal anfassen! Die Sache schien also verdammt ernst zu sein. – Nein, auch die Mitschüler aßen kein Gemüse mehr, es sei denn, es kam aus einer Dose.

Doch dann wurden die Daten verglichen. Nicht nur in Tschernobyl hatte es einen Unfall gegeben, sondern auch in Hamm-Uentrop. Irgendwie waren dort alle Messinstrumente ausgefallen, irgendwie war nicht heraus zu bekommen, was dort geschehen war. Nur eins wurde gesagt, dass nämlich bei uns die Strahlung noch einmal höher war als überall woanders. Und das Verbot der Milchbelieferung der Molkerei bezog sich nicht auf den Tag des Unfalls in Tschernobyl sondern auf den Tag des Unfalls in Hamm-Uentrop.

So etwas prägt. Selbst dann, wenn man sowieso keine Pilze mag und lieber Fleisch statt Gemüse isst. Dieser Atomscheiß war eine weitaus größere Bedrohung als alle Raketen dieses Planeten. Er war so sagenhaft unheimlich, weil man ihn weder fühlen, hören noch sehen konnte.

Jahrelang passierte nichts. Nur die Hoffnung, dass auch weiterhin nichts passiert blieb. Endlich wurde die Laufzeit der Kraftwerke befristet. Wenigstens ein Hoffnungsschimmer und Erdwesen begrüßte jedes neu errichtete Windkraftwerk, welches sie zu Gesicht bekam. Je weiter sie nach Norden kam, desto mehr gab es davon, aber dann kam eine andere Meldung.

Von den Berichten von Elena Filatowa, hatte sie erfahren, dass Radioaktivität tatsächlich begrenzt ist. Durch Umwelteinflüsse wie etwas Wind oder Bewuchs ist sie unterschiedliche verteilt. Mit anderen Worten: wenn man einen Geigerzähler hat, der in dem geforderten Bereich messen kann, so kann man die heißesten, verstrahltesten Flecken meiden und so gegebenenfalls ein paar Meter nach rechts oder links ausweichen. Dazu kommt, dass es besonders gefährlich ist, radiaktive Partikel einzuatmen, da sie dann im Körper weiterstrahlen. Das gibt dann auch der Anweisung Sinn, dass man bei einem Unfall Türen und Fenster strikt geschlossen halten soll und eine Mundschutz tragen soll. Die Radioaktivität ist zwar da, gelangt aber nicht auch noch zusätzlich in die Atemwege.

Dann kam die Nachricht, dass die Schrebergärten in Hannover radioaktiv verseucht sind, weil eine Firma um die Jahrhundertwende ihren radioaktiven Müll sorglos einfach irgendwo hinschemeißen durfte. Seit diesem Zeitpunkt besitzt Erdwesen doch den Geigerzähler, den sie schon damals hätte haben wollen. Und wieder beschäftigte sich das Erdwesen mit Radioaktivität. Was ist das für ein Ding, das wir nicht wahrnehmen können und das uns doch umbringen kann?

Ihre ersten Messungen mit dem Geigerzähler sind hier dokumentiert und da gibt es schon wieder Ungereimtheiten, denn der eine misst so, der andere anders und letzten Endes behauptet jeder, dass er Recht gehabt hätte oder das der andere Zähler nicht geeicht war usw. usf.

Im Falle der Messungen in Hannover am Riedel-de-Haen-Platz (KiTa-Spielplatz) und am Schrebergartenparkplatz „Gut Grün“ hat das Erdwesen jedoch mit dem gleichen Geigerzähler gemessen und auf die gleiche Art und Weise – nämlich einfach das Gerät auf den Boden gelegt und abgewartet, bis die Werte sich eingependelt haben. Obwohl Erdwesen am KiTa-Spielplatz weniger gemessen hatte als die Behörden, waren die Werte am Schrebergartenparkplatz, um den sich seither aber auch wirklich niemand mehr kümmert wesentlich höher als die, die bekannt gegeben wurden. Während der Spielplatz mit den an sich nur geringen Werten aufwändig saniert wurde, liegt der Parkplatz weiterhin brach. Einige haben ihre Schrebergärten aufgegeben, aber sonst tut sich nichts. Man kann ja nicht sehen, warum ein einfaches Absperrungsgitter (inzwischen) am Rande des Parkplatzes steht. Eine Kennzeichnungspflicht „Vorsicht hier Radioaktivität“ besteht nicht und Hannovers Einwohnerschaar – allesamt pflegmatische, geduldige Esel – kümmert es nicht. Was ich nicht seh, das kann nicht sein? Rasende Motorradfahrer werden hier eindeutig wichtiger genommen, besonders, da einige dieser auch noch den Fehler machen, sich tot zu fahren.

Es ist nicht zu verstehen, wie ein kleiner Punkt auf einem Spielplatz, der an dieser Stelle nicht mal offiziell einer war, so eine Aufruhr verursachen kann, aber eine wesentlich schwerere Verseuchung völlig ohne jegliche öffentliche Beachtung bleibt. Aber eines zeigt diese Riedl-de-Haen Angelegenheit schon. Radiaktiver Müll entsteht nicht nur in Atomkraftwerken, sondern an vielen anderen Orten und ihre Anzahl steigt. Wohin mit dem Müll? Schon die paar Container verseuchte Erde vom Spielplatz wollte niemand haben. Da sind abgedankte Brennelemente weit schwieriger unter zu bringen. Die meisten gehen wohl irgendwo in die Tiefen Russlands und die, die einer „geordneten“ Endlagerung zugehen sollen, landen in Ahaus, im Schacht Konrad, früher in Morsleben und demnächst vielleicht nicht mehr nur in der Lagerhalle in Gorleben, sondern auch im Salzstock, der genauso zerbröseln könnte wie der Salzstock bei der Asse. Was für ein Wahnsinn. Jeder müsste das eigentlich erkennen können, aber einige Menschen scheinen sehr leicht käuflich zu sein.

Über Erdwesen

Erdwesen ist ein Erdwesen! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Erdwesen schreibt aber auch noch in einer Reihe von anderen Foren und es gibt auch Foren, in denen sie sich so unbeliebt gemacht hat, dass sie dort heute besser nicht mehr schreibt.
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