Das Erdwesen machte sich kurzentschlossen auf zur Anti-Atom-Demo nach Berlin. Gleich am Bahnhof wurde die Suche nach dem „wohin?“ leicht gemacht, denn auch am regulären IC trafen schon bald einige Demonstrationsteilnehmer mit Trommeln und Fahnen ein, denen das Erdwesen folgen konnte, ohne noch einen Gedanken an den möglicherweise richtigen oder falschen Ausstiegsbahnhof in Berlin zu verschwenden. Außerdem schien der Fahrkartenkauf für Berlin jetzt nicht mehr so kompliziert zu sein wie vor dem Bau des neuen Hauptbahnhofes, den das Erdwesen zuvor noch nicht gesehen hatte.
Bis Stendal ergatterte das Erdwesen einen regulären Sitzplatz. Dort kamen die Wendländer hinzu und die hatten zu großen Teilen eine Sitzplatzreservierung. Also nahm das Erdwesen auf den Treppenstufen platz und bald war dann auch Berlin Hauptbahnhof erreicht.
Was für ein Bahnhof?! Zwar ist er riesig groß, aber schön ist klar etwas anderes. Im Innern wirkt es viel zu dunkel und beim abendlichen Kaufen des Rückfahrscheins war es dann auch noch schwierig überhaupt irgendwo einen Fahrkartenautomaten zu entdecken und der, den das Erdwesen fand, funktionerte nicht mehr richtig, sondern nur unter mehrfachem guten Zureden. Wie überall in Deutschland gibt es auch an diesem neuen Bahnhof viel zu wenige Toiletten und dann sind sie nicht einmal mit vernünftigen selbstreinigen WC-Sitzen ausgestattet. Okay, sie sind mit 80 Cent billiger als die in Hannover und Klopapier gab´s zum Glück auch noch. Aber ich meine: das ist ein nagelneuer Bahnhof, der erst 2006 eröffnet wurde! Und ist auf´s Klo gehen kein Grundrecht, was kostenlos möglich sein müsste, wenn man sich in der Hauptstadt befindet??
Der Bahnhof liegt quasi direkt am Regierungsviertel und man muss sich schon fragen, wenn man das so sieht, was denn nun eigentlich die Berliner davon haben. Erdwesen war im zarten Alter von 16 zum ersten mal in Berlin. Der Reichstag war damals ein riesiges Gebäude, wenn nicht gar das größte, was sie jemals gesehen hatte. Und wie ist es heute?
Man kann von Glück sagen, dass man die neue Kuppel wenigstens gut sehen kann, sonst fiele er womöglich gar nicht mehr auf, außer dass er älter ist als der Rest. Die Regierung hat sich einverpalastisiert.
Erdwesen hat irgendwann vor langer Zeit im Studium mal gelernt, dass Eingänge, die 2-3x höher sind als ein Mensch groß als „menschenverachtend“ zu bezeichnen sind. Das ist den Architekten, die diese Glaspaläste geplant haben, wohl entgangen. Die Paläste passen zum Bahnhof und es passt zu unserer Gesellschaft, dass eine Demonstration mit 100000 Teilnehmern auf einem unbefestigen Matschplatz zwischen den Prachtgebäuden der Herrschenden ihren Anfang und ihren Abschluss finden muss. – Die Gebäude ringsum mögen glänzen, aber sie erinnerten das Erdwesen an einen französisches Bauwerk, welches massenhaft Wohnungen für sozial Schwache beinhaltete. Das ganze Gebäude war als Fleischwolf mit runden Gucklöchern gestaltet, von denen jeweils eines das Fenster für vier Wohnungen bildete, was erahnen lässt, welche Dimension der „Fleischwolf“ hatte.
Die Demonstration verlief leise. Ruhig. Zivilisiert. Doch wie lange wird das noch so bleiben? Im Wendland fehlt längst jedes Verständnis für auch nur einen weiteren Tag der Atomkraftnutzung. Wenn irgendwann alles eskaliert und der zuständige Minister wird, sollte er diesen Tag überleben, einmal in einem Interview gefragt werden, warum man denn nicht eher im Sinne der Bürger reagiert hätte, wird er sich darauf zurückziehen, dass doch diese Demonstration ohne das Werfen von Steinen und ohne Straßenschlacht stattgefunden hätte. Man hätte ja nicht ahnen können… alle Bürger waren immer so vernünftig… Und das Wendland? Von dieser seltsamen Gegend höre er heute zum ersten mal. Ihm sei immer zugetragen worden, alles liefe aufs Beste und diese friedfertige Zusammenkunft von 100000 Menschen, hätte ihn davon überzeugt, mit seiner Meinung völlig im Recht zu sein.
Es ist gut zu sehen, wieviele Menschen bereit sind, sich auch nach so langer Zeit noch mit dem ungelösten Problem der Hinterlassenschaften der zahlreichen AKWs in Deutschland zu beschäftigen, obwohl es so ein frustrierendes Thema ist. Denn selbst, wenn von jetzt auf gleich alle AKWs heruntergefahren würden, so wüßten wir doch nicht wohin mit dem Müll. Es wäre sogar so, dass es Jahrzehnte dauerte bis die AKWs abgebaut werden könnten. Deswegen ist auch Hamm-Uentrop so ein „schönes“ Beispiel:
War alles nur ein Versuch, hat kaum Strom geliefert, hatte einen riesigen Störfall, der aber in den Messwerten von Tschernobyl unterging und muss nun noch an die 20 Jahre bewacht in der Gegend herum stehen, bis man mit dem tatsächlichen Abbau beginnen kann. Natürlich ist der Kühlturm längst verschwunden und wer nicht weiß, dass dort mal der THTR gestanden hat, der wird es im Vorbeifahren nun auch nicht mehr bemerken. Eine Industriebrache eben, wie so so viele andere auch und doch tödlich.
Erdwesen geht davon aus, dass die verantwortlichen Politiker weiter die Atomwirtschaft fördern werden. Viele scheinen den letzten Respekt vor der Bevölkerung, die sie eigentlich vertreten sollen, vollends verloren zu haben.